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“Das wichtigste ist, wie der Staat sein Geld ausgibt”

Für Giuliano Bonoli sind die skandinavischen Länder Vorbilder in Sachen soziale Investitionen. Keystone

Giuliano Bonoli, der am Donnerstag den Latsis-Preis erhält, ist überzeugt, dass Sozialausgaben nicht nur eine Last für den Staat sein müssen, sondern auch zu einem Motor für Wirtschaftswachstum werden können.

Der Tessiner Politikwissenschafter mahnt die Schweiz, Erscheinungen sozialer Ausgrenzung frühzeitig zu bekämpfen. swissinfo hat Bonoli interviewt.

Nach Meinung des jungen Professors vom Institut IDHEAP in Lausanne stellt der Preis nicht nur eine persönliche, sondern auch eine Anerkennung für seine Disziplin dar.

swissinfo: Wie kam es zu Ihrem Interesse für die Sozialpolitik?

Giuliano Bonoli: Es war ein bisschen Zufall im Spiel, wie bei vielen Entscheidungen im Berufsleben.

Nach meinem Abschluss an der Uni Genf ging ich nach England, um einen Master in Politikwissenschaften zu machen. Dort arbeitete ich dann in einem Forschungsprojekt zur Sozialpolitik.

Mir wurde schnell klar, dass diese Studien nicht nur für mich persönlich interessant waren, sondern auch eine wichtige gesellschaftliche Relevanz besassen.

swissinfo: Hat die Auseinandersetzung mit dem Staat und der Gesellschaft Englands ihre Studien beeinflusst?

G.B.: Ich bin 1993 nach England gegangen. Das war die Ära nach Thatcher. Margaret Thatcher war von 1979 bis 1990 Premierministerin und hat in dieser Zeit England ökonomisch und sozial radikal umgebaut.

Die Folgen dieser neoliberalen Politik waren mit den Händen greifbar. Man sah Armut in den Strassen; man merkte es im Kontakt mit den Menschen.

Das hat mich damals tief beeindruckt. Ich kam aus dem reichen Genf. Und in der Schweiz stand Sozialpolitik – im Gegensatz zu England – noch nicht auf der Agenda. Später änderten sich die Dinge auch bei uns.

swissinfo: Wieso?

G.B.: Soziale Probleme wie Massen- und Langzeit-Arbeitslosigkeit tauchten in der Schweiz mit grosser Verspätung auf.

Das heisst: Rund 15 bis 20 Jahre, nachdem diese Phänomene Mitte der 1970er-Jahre in den meisten OECD-Ländern festgestellt wurden.

Heute sind wir zudem mit den finanziellen Problemen der Sozialwerke konfrontiert. Die Invalidenversicherung (IV) weist ein Defizit von mehr als einer Milliarde Franken pro Jahr auf.

Die Alters- und Hinterbliebenen-Versicherung (AHV) hat momentan noch kein Defizit, doch angesichts der demographischen Entwicklung werden die Schwierigkeiten ab 2010/2015 auftreten.

Es gibt keine einfachen Lösungen, um ein finanzielles Gleichgewicht herzustellen.

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Invaliden-Versicherung

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die Invalidenversicherung (IV) ist eine obligatorische Versicherung. Sie sichert den Versicherten die Existenzgrundlage, wenn sie invalid werden. Dies geschieht mittels Eingliederungsmassnahmen oder Geldleistungen. Die IV subventioniert auch speziell eingerichtete Institutionen. Die Versicherung wird zu rund 40% von Beiträgen der Erwerbstätigen und Arbeitgeber finanziert. Der Rest stammt aus öffentlichen Geldern.

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Eine häufig vorgeschlagene Erhöhung der Beiträge und eine Kürzung der Bezüge verlagert die Probleme nur.

Die erwähnte Verspätung der Schweiz könnte sich allerdings auch als Vorteil erweisen. Denn die Eidgenossenschaft kann von den Erfahrungen anderer Länder profitieren.

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AHV

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die Alters- und Hinterlassenen-Versicherung (AHV) ist eine Grundversicherung, die den Existenzbedarf garantiert für Rentnerinnen und Rentner ab 65 Jahren, Waisen, Witwen und Hilflose. Sie ist obligatorisch und wird zu rund 80% von Beiträgen der Erwerbstätigen und Arbeitgeber finanziert. Den Rest übernehmen der Bund und die Kantone.

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swissinfo: Sie sprechen von Massen-Arbeitslosigkeit. Doch in der Schweiz ist die Arbeitslosenquote sehr tief im Vergleich zu anderen Ländern.

G.B.: Vor allem die Langzeit-Arbeitslosigkeit ist ein Problem. Man muss unbedingt vermeiden, dass Menschen auf Dauer von der Arbeitswelt ausgeschlossen werden. Dieses Phänomen beobachten wir leider in vielen Ländern.

Diese Entwicklung vollzieht sich langsam, ist aber fast unumkehrbar, wenn sie einmal eingetreten ist.

Denken wir nur an die Banlieues in Frankreich. Es ist äusserst schwierig, dort sozial verträgliche Zustände herzustellen. Zu viele Personen sind bereits randständig. Wenn man diese Entwicklung vor 15 bis 20 Jahren bekämpft hätte, wäre es leichter gewesen.

Ich möchte daher wiederholen: In der Schweiz haben wir den Vorteil, etwas später mit den Problemen konfrontiert zu sein. Aber wir sollten nicht warten, bis sich die Situation zuspitzt.

swissinfo: In ihren Forschungsarbeiten verweisen sie häufig auf einen dritten Weg, jenseits der neoliberalen Schwächung und der strukturkonservativen Bewahrung des traditionellen Sozialstaats. In welche Richtung muss man gehen?

G.B.: Dieser dritte Weg basiert stark auf der Idee der sozialen Investitionen. Gemeint sind solche Investitionen, die nicht nur die soziale Kohäsion eines Landes stärken, sondern auch wirtschaftlich zu einem Wachstum beitragen.

Wenn der Staat Kinderkrippen subventioniert oder gratis zur Verfügung stellt, können Mütter erwerbstätig sein. Die Frauen können so einen Beitrag zum Wirtschaftswachstum leisten: Sie bezahlen Steuern und Sozialabgaben.

Die skandinavischen Länder haben bewiesen, dass diese Art der sozialen Investition möglich ist. Diese Länder verfügen über einen sehr entwickelten Sozialstaat, weil sie ihre sozialen Ausgaben weniger auf den Schutz Benachteiligter ausrichteten, sondern auf die Kreation neuer Arbeitsmöglichkeiten.

In Schweden kostet ein Platz in der Kinderkrippe höchstens 300 Franken im Monat. In der Schweiz muss man 1500 bis 2000 Franken bezahlen.

swissinfo: In der Schweiz spricht man lieber von einer Reduktion sozialer Ausgaben als von sozialen Investitionen. Sind Sie da nicht manchmal ein wenig pessimistisch?

G.B.: Es gibt in der Tat ein gravierendes Problem. Bei uns werden die sozialen Ausgaben immer mit einer Schwächung der Wirtschaft und des Staates in Verbindung gebracht. Doch dies ist ein falsches Problem.

Die skandinavischen Länder verlangen höhere Steuern und der Staat gibt auch mehr aus. Gleichzeitig sind es die wettbewerbsfähigsten Länder der Erde, weil die sozialen Ausgaben zur Produktivität der Wirtschaft beitragen.

Es ist also nicht so wichtig, wie viel der Staat ausgibt. Wichtiger ist, wie er das Geld ausgibt.

Wenn die Mittel nützlich für Wirtschaft und Gesellschaft eingesetzt sind, kann sich daraus ein Vorteil für die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes ergeben. Diese Idee hat meiner Meinung nach in der Schweiz noch nicht Fuss gefasst.

swissinfo-Interview, Daniele Mariani
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

Die Latsis Foundation, eine privatrechtliche Stiftung, wurde 1975 von der griechischen Familie Latsis in Genf gegründet.

Die Familie hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Immobilien, Erdöl und dem Handel von Trockenfrüchten ein Vermögen erwirtschaftet.

Die Stiftung verleiht jährlich vier Universitätspreise von je 25’000 Schweizer Franken sowie einen nationalen und europäischen Latsis-Preis von je 100’000 Schweizer Franken.

Die Gewinner des nationalen Latsis-Preises dürfen nicht älter als 40 Jahre sein.

Der nationale Latsis-Preis besteht seit 1984. Der Preisträger oder die Preisträgerin wird vom Nationalen Forschungsrat des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) ausgewählt.

Die Preisverleihung findet am 10. Januar 2008 im Berner Rathaus statt.

Giuliano Bonoli – 1968 im Tessin geboren – studierte Politikwissenschaften an der Universität Genf.

Zu Beginn der 1990er-Jahre ging er nach England und promovierte an den Universitäten Leeds und Kent.

Nach seiner Rückkehr in die Schweiz arbeitete er zuerst an der Uni Freiburg.

Heute ist er Professor für Sozialpolitik am “Institut de hautes études en administration publique” (IDHEAP) in Lausanne.

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