Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

“Der Westen muss mit gleichen Ellen messen”

Radovan Karadzic 1995 (rechts) und in einer aktuellen Aufnahme. Reuters

Am Montag ist der Serbenführer Radovan Karadzic in der Nähe von Belgrad verhaftet worden. Karadzic, der wegen Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verfolgt wurde, war fast 13 Jahre auf der Flucht.

Weshalb die Verhaftung Karadzics gerade jetzt möglich war und welche Auswirkungen sie auf die politische Stabilität im Balkan hat, wollte swissinfo vom Staatsrechtler Thomas Fleiner wissen.

swissinfo: Die neue Regierung ist noch nicht lange am Ruder und schon wurde der mutmassliche Kriegsverbrecher Karadzic festgenommen. Hat die in diesem Jahr gestürzte Regierung des nationalkonservativen Vojislav Kostunica die Verhaftung verhindert?

Thomas Fleiner: Das weiss ich nicht. Ich habe nie mit Kostunica über diese Frage gesprochen.

Mich verwundert, dass jetzt eine Koalition der Demokraten unter Tadic und der Sozialisten, der ehemaligen Partei von Milosevic, zusammengekommen ist. Diese Partei war ja sehr stark an den Kriegsverbrechen beteiligt – oder zumindest Milosevic.

swissinfo: Was bedeutet die Festnahme für diese Koalition?

T.F.: Ich weiss nicht, inwieweit jetzt Bedingungen eingehalten werden, die mit den Amerikanern und den Europäern geschlossen wurden. Jetzt sind plötzlich Einreisevisen für gewisse Tycoons in die USA möglich, die vorher nicht möglich waren.

Einige der Tycoons, die unter Milosevic reich wurden, können jetzt in die USA reisen, weil man nach dieser Koalition ihr Reiseverbot aufgehoben hat.

swissinfo: Ihrer Meinung nach waren diese Einreisevisen also eine Art Bedingung?

T.F.: Ja, das ist möglich.

swissinfo: Sie haben gesagt, wer von dieser Verhaftung indirekt profitiert haben könnte. Und wer in Serbien hat nach der Verhaftung Karadzics etwas zu befürchten?

T.F.: Das kann ich nicht genau sagen. Kostunica selber hat Milosevic nie gesehen und hat nie mit ihm gearbeitet.

Ich weiss nicht, inwieweit es in der sozialistischen Partei von Tadic Leute gibt, die mit Milosevic gearbeitet haben, die möglicherweise etwas zu befürchten haben.

swissinfo: Was bedeutet die Festnahme für die Kriegsopfer?

T.F.: Für die Kriegsopfer ist dies sehr wichtig. Es geht nicht um Rache, aber um die Überzeugung, dass es trotz allem noch ein wenig Gerechtigkeit gibt, und dass Übeltäter für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden.

swissinfo: Wie gross sind die Chancen, dass in naher Zukunft auch der Kriegsverbrecher Ratko Mladic verhaftet wird?

T.F.: Es ist durchaus möglich. Ich nehme an, dass er sich jetzt vorsichtiger verhalten wird.

swissinfo: Namentlich Carla del Ponte, die ehemalige Chefanklägerin des Uno-Tribunals in Den Haag, hat den USA und Europa vorgeworfen, sie hätten die Festnahme von Karadzic verhindert. Haben die USA und Europa Mitschuld daran, dass es so lange gedauert hat, bis Karadzic festgenommen werden konnte?

T.F.: Möglicherweise, weil sie Bedenken haben, dass Karadzic im Prozess Aussagen macht, die ihnen nicht passen. Weiter kann ich mich nicht dazu äussern, weil mir nichts bekannt ist.

swissinfo: Welche Auswirkungen hat die Festnahme auf die politische Stabilität im Balkan?

T.F.: Ich glaube, langfristig ist diese Festnahme sehr wichtig. Allerdings muss man bedenken, dass andere Kriegsverbrecher wie etwa der ehemalige UCK-Anführer Ramush Haradinai, die in der Meinung vieler Serben ähnliche Verbrechen begangen haben, vom Tribunal wegen mangelnder Beweise frei gesprochen wurden.

Wenn das Tribunal nicht glaubhaft machen kann, dass gegenüber allen Kriegsverbrechern mit gleichen Ellen gemessen wird, wird diese Verhaftung keine guten Auswirkungen auf die Stabilität und vor allem auf die Glaubhaftigkeit des Rechtsstaates haben.

swissinfo: Weshalb geniesst Karadzic bei grossen Teilen der serbischen Bevölkerung immer noch grossen Rückhalt?

T.F.: Der Kriegsverbrecher der einen Partei ist immer auch der Kriegsheld der Gegenpartei. Das ist bei allen Kriegsverbrechern im Balkan so. Dies gilt auch für die andern Kriegsparteien des ehemaligen Jugoslawiens.

Warum beispielsweise stehen noch viele Amerikaner hinter der Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki? Diesem Verständnis liegt die falsche Idee des gerechten Krieges zugrunde.

Erst, wenn die Menschheit anerkennt, dass es keine gerechten Kriege geben kann und dass die sogenannten Kollateralschäden eines Krieges ebenso verbrecherisch sind, wird man die Grundlagen dafür schaffen, dass auch nationalistisch gesinnte Kriegsführer Kriegsverbrecher sind.

Es kann zu Spannungen führen, wenn sich die eine Seite völlig ungerecht behandelt fühlt.

swissinfo: Kann man Hiroshima mit Serbien vergleichen?

T.F.: Dieser Vergleich soll zeigen, wie einseitig die Situation beurteilt wird. Ich bin dagegen, dass man jetzt einfach einem Volk die Schuld zuweist. Man vergisst dabei, dass alle Völker ihre Probleme in der Geschichte haben.

swissinfo: Ist die Festnahme Karadzics ein Zeichen dafür, dass Serbien seine Kriegsvergangenheit ein Stück weit aufgearbeitet hat?

T.F.: Die Vergangenheit aufzuarbeiten, ist nicht eine Frage von zwei, drei Monaten, dies dauert und wird auch in Serbien viel länger dauern.

Es hängt auch davon ab, wie offen und ehrlich alle anderen Kriegsparteien inklusive die USA und Europa die Vergangenheit in Sachen Konflikt mit Yugoslawien bewältigen.

So lange der Westen nicht bereit ist, seine Schuld zuzugestehen, hat er keinen Anspruch, kein Recht und auch keine Chance darauf, dass andere anfangen, ihre Schuld zu bekennen.

swissinfo: Und inwieweit gesteht Serbien heute seine Schuld ein?

T.F.: Die Medien sollten endlich anerkennen, dass man nicht einfach der einen Seite alle Schuld zuschieben und der anderen keine Schuld zuschieben kann. Im übrigen ist es jedenfalls unzulässig kollektiv einer ganzen Nation oder einem Staat eine Schuld zuzuweisen. Viele Serben haben unter Lebensgefahr gegen Milosevic gekämpft. Auch dies ist Teil der Wahrheit und gehört zur Vergangenheit, die man anerkennen muss.

swissinfo-Interview: Corinne Buchser

Radovan Karadzic wird am 19. Juni 1945 in Petnjica in Montenegro geboren.

1960 zieht er mit seiner Familie nach Sarajevo, schliesst 1971 sein Medizinstudium ab und arbeitet als Psychiater.

1968-1990: Karadzic veröffentlicht vier Gedichtbände.

1990: Karadzic wird erster Vorsitzender der Serbischen Demokratischen Partei (SDS) in Bosnien-Herzegowina.

1992: Gründung der Serbischen Republik Bosnien-Herzegowina mit Karadzic als erstem Präsidenten.

Nach der Ausrufung der Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas am 3. März 1992 brechen in ganz Bosnien Kämpfe aus.

Bis Dezember 1992 bringen die bosnischen Serben mit Unterstützung Serbiens 70% von Bosnien-Herzegowina unter ihre Kontrolle. Karadzic soll dabei ethnische Säuberungen geplant und befohlen haben.

Juni 1995: Auf Befehl Karadzics wird die UNO-Schutzzone Srebrenica von serbischen Truppen ohne Widerstand der niederländischen UNO-Truppen eingenommen. Frauen und Kinder werden vertrieben, ein Grossteil der männlichen Bevölkerung (ca. 7000 Bosniaken) ermordet.

1995: Das UNO-Kriegsverbrechertribunal ermittelt gegen General Ratko Mladic und Radovan Karadzic.

1996: Erlass eines internationalen Haftbefehls.

Vergebliche Bemühungen der damaligen UNO-Chefanklägerin, Carla Del Ponte, Karadzic und Mladic zu verhaften.

21. Juli 2008: Radovan Karadzic wird in Serbien verhaftet.

Der Schweizer Staatsrechtler Thomas Fleiner ist seit 1969 an der Universität Freiburg tätig. Zuerst Assistent und seit 1971 ordentlicher Professor für Staats- und Verwaltungsrecht.

1975 bis 1983: Mitglied des IKRK.

1983 bis 1985: Dekan der Juristischen Fakultät.

Seit 1984 hat er einen Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht an der Uni Freiburg.

1984: Gründung des Instituts für Föderalismus.

Seit November 2005 ist er Berater der serbischen Regierung.

Seine Zusammenarbeit begann 2003 als die Konföderation Serbien-Montenegro gegründet wurde.

Fleiner war auch Gast-Professor an den Universitäten von Jerusalem, Rouen, Belgrad und an der Cardozo Law School in New York.

Er ist Autor verschiedener Bücher zum Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht.

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft