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“Der wirtschaftliche Aspekt wird zu stark betont”

Keystone

In einer von der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) in Auftrag gegebenen Studie werden die Geldflüsse zwischen der kosovarischen Diaspora und dem Kosovo analysiert. Ein Experte erklärt die Grundlage, auf der die Studie beruht.

Gemäss Schätzungen lebt ungefähr jeder dritte Kosovare im Ausland. Die grössten Gemeinschaften sind in Deutschland (270’000 Personen) und in der Schweiz (160’000) ansässig. Jeder dritte Haushalt im Kosovo hat mindestens ein im Ausland ansässiges Familienmitglied.

Die von der Deza in Auftrag gegebene Studie wurde in der Schweiz von der Fachstelle für Migrationsfragen pro Integra vorgestellt.

Osman Osmani, der Gründer und Co-Leiter dieser Fachstelle, ist Schweizer und stammt aus dem Kosovo. Er kennt die kosovarische Diaspora aus einer Anschauung und ordnet die Ergebnisse der Studie ein.

swissinfo.ch: Wie stark sind die kosovoarischen Haushalte heute noch auf die Geldzahlungen aus dem Ausland angewiesen?

Osman Osmani: Aufgrund der Tatsache, dass über 50 Prozent der Leute im Kosovo arbeitslos sind, sind nicht nur die kosovarischen Haushalte, die eine Person in der Diaspora haben, sondern auch die anderen, weiterhin sehr stark auf finanzielle Unterstützung angewiesen.

Ich kann Ihnen zum Beispiel meinen Vater nennen; er hat 45 Jahre gearbeitet und erhält rund 70 Euro Rente. Er ist darauf angewiesen, dass ich ihn unterstütze.

swissinfo.ch: Ist es üblich, Geld für Leute in den Kosovo zu schicken, mit denen man nicht verwandt ist?

O.O.: Ja, die Solidaritätspflicht ist weiterhin vorhanden. Die Leute in der Diaspora haben nicht nur die eigenen Familienmitglieder unterstützt, sie haben die Dorfgemeinde und Herkunftsgemeinden im Allgemeinen unterstützt.

Auch kleine Geschäfte wurden mit Geldern aus dem Ausland eröffnet. Auch Ausbildungen der nächsten Generation wurden finanziert. Im Falle von Krankheit wurden teure Operationen im In- oder Ausland bezahlt.

Nicht selten finanzierten die Leute in der Diaspora – heute weniger – den Bau einer Dorfstrasse, eines Schulhauses, einer Wasserleitung, Kanalisation, eines Gotteshauses, usw.

Wichtig zu erwähnen ist auch, dass sie die Widerstandsbewegung von 1981 bis Anfang der 1990er-Jahre grosszügig mitfinanziert haben, danach fast ein Jahrzehnt lang die Parallelstrukturen während der serbischen Herrschaft in Kosovo und von 1996 bis 1999 den Krieg in Kosovo.

Nach dem Krieg hat, wie die Studie bestätigt, die Diaspora-Gemeinde 12 Mal mehr zur Reparatur der materiellen Kriegsschäden beigetragen als die internationale Gemeinschaft.

swissinfo.ch: Die Studie hat festgestellt, dass einige Diaspora-Kosovaren zwar die finanziellen Mittel zu einer Investition hätten, aber die “Geschäftskultur des Kosovos als Hindernis” ansehen. Was muss man sich darunter vorstellen?

O.O.: Das hat auch mit dem jetzigen Aufbau des Staates zu tun, mit den unklaren Zuständigkeiten. Die Institutionen des kosovarischen Staates, die Unmik und die EU-Lex.

Nicht zu vergessen ist ein Sonderbeauftragter, der im Auftrag der USA und der EU über Macht und Zuständigkeiten verfügt. In gewissen Orten in Kosovo existieren auch noch Parallelstrukturen von Serbien. Das macht die ganze Sache sehr schwierig.

Es gibt keine Rechtsgrundlagen für die Investitionen aus der Diaspora und die Infrastruktur, vor allem die Stromversorgung ist schlecht. Ich bin überzeugt, dass nicht nur wirtschaftliches Kapital, sondern auch Bildungskapital und soziales Kapital in der Diaspora vorhanden ist. Um all das in den Kosovo zu bringen, braucht es in erster Linie bessere Rahmenbedingungen.

swissinfo.ch: Wie sieht der Einfluss der Diaspora auf die politische Entwicklung im Kosovo aus?

O.O.: Der Einfluss auf die politische Entwicklung im Kosovo ist zur Zeit sehr klein. Aber das wird sich mit Sicherheit ändern. Wir wissen, was die Diaspora in der Vergangenheit zu der politischen Entwicklung beigetragen hat.

Sie wird auch in Zukunft viel zum Demokratisierungsprozess beitragen. Meiner Meinung nach gehört dies zu ihren Aufgaben. Doch zur Zeit denkt im Kosovo niemand an die Diaspora.

Für mich wird der wirtschaftliche Aspekt der Diaspora zu stark betont. Man vergisst andere, lebenswichtige Aspekte, zum Beispiel das Wissen, wie die Verwaltung eines Staats funktionieren könnte und das andere Kapital, das manche hier erworben haben, soziales Kapital, Bildung.

Und auch das Kulturelle, das ein Mensch in einem anderen Land erwirbt. Wir wissen eben, was ein Staat und was Dienstleistungen bewirken können und wie sie den Lebensstandard erhöhen können.

Eveline Kobler, swissinfo.ch

Im Jahr 2008 haben die Rimessen (Geldüberweisungen ins Ausland) nach Kosovo laut der Zentralbank des Kosovo eine Gesamtsumme von 535,8 Millionen Euro erreicht.

Die Studie hält fest, dass die Rimessen im Laufe der Jahre kleiner geworden seien: “Die Mehrheit schickt weiterhin Geld in den Kosovo, obschon es sich um kleinere Beiträge handelt. Einer der Hauptgründe dafür war die Tatsache, dass viele inzwischen ihre nächsten Verwandten in die Schweiz gebracht haben.”

Weiter heisst es: “Ein anderer Faktor, der sich scheinbar auf das Verhalten bezüglich Rimessen ausgewirkt hat, sind die erleichterten Reise-und Kommunikations-Möglichkeiten. Diese haben viele Auswanderer darauf aufmerksam gemacht, dass das Geld, welches sie in den Kosovo senden, nicht korrekt verwendet wird. In vielen Fällen werden daraus Luxusgüter und Freizeit-Aktivitäten finanziert, die nicht einmal den Migranten selbst zur Verfügung stehen.”

Die Studie hat ergeben, dass Rimessen aus der Diaspora hauptsächlich für den Konsum und für Luxusgüter ausgegeben werden.

Nur ein sehr kleiner Teil der Geldzahlungen wird für Bildung aufgewendet.

Die Höhe von Investitionen aus der Diaspora bleibt weiterhin tiefer als erwartet.

Die Mitglieder der Diaspora konzentrieren ihre Bemühungen vermehrt auf die Integration im Gastland und weniger auf Inverstitionen im Kosovo.

Die aus der Diaspora erhaltene Unterstützung bei der Gründung von Unternehmen im Kosovo ist 12 Mal höher als die Unterstützung durch internationale Entwicklungs-Agenturen.

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