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“Die Nordkoreaner wollen nur genug zu essen haben”

Ist es Kim Jong Un oder ist er es nicht? Eine undatierte Aufnahme in einer Privatschule in der Nähe von Bern. Keystone

Nach dem Tod des 69-jährigen nordkoreanischen Machthabers Kim Jong Il vom letzten Samstag erklärt Sicherheitsexperte Albert Stahel im Gespräche mit swissinfo.ch, warum alle Augen auf diese Diktatur gerichtet sind.

Für den Professor für Strategische Studien an der Universität Zürich könnte vieles davon abhängen, ob der mutmassliche Nachfolger des verstorbenen Diktators, der gegen 30 Jahre alte Kim Jong Un, der in der Schweiz die Schulbank drückte, von den Generälen der nordkoreanischen Armee akzeptiert wird.

Die Regierungen in der ganzen Welt betrachten den Tod Kim Jong Ils nach dessen 17-jähriger Herrschaft mit wachsamem Optimismus. Einerseits könnte der Machtwechsel eine Gelegenheit für einen diplomatischen Neustart sein, andererseits ein destabilisierendes Element für die Region.

Nordkoreas Verhalten in letzter Zeit war notorisch verwirrend, was es schwierig macht, den künftigen Kurs vorauszusagen. Das Nachbarland Südkorea, das über die Unerfahrenheit Kim Jong Uns beunruhigt ist, hat seine Armee in höchste Alarmstufe gegen die 1,2 Millionen Mann starke Armee Nordkoreas versetzt.

swissinfo.ch: Die erste Reaktion vieler Leute auf die Todesnachricht von Kim Jong Il war positiv: ein Diktator weniger auf der Welt. Aber dann realisierten sie, dass Nachfolger Kim Jong Un es für nötig befinden könnte, sich selber zu beweisen und die Stabilität zu bedrohen. Was halten Sie davon?

Albert Stahel: Ein Diktator wird durch einen anderen ersetzt. Wie das vor den Umwälzungen in Ägypten mit der Mubarak-Familie, in Libyen mit den Gaddafis oder den Assads in Syrien der Fall war. Nachher gibt es keine Stabilität. Es ist möglich, dass die Lage in eine gefährliche Richtung gehen könnte.

swissinfo.ch: Wie kann die Lage in Nordkorea mit den Umwälzungen in der arabischen Welt verglichen werden?

A. S.: Das ist nicht dasselbe. Wir hatten so etwas wie eine Revolution in Tunesien, so etwas wie einen Befreiungskampf in Libyen – hauptsächlich mit Hilfe von Frankreich und Grossbritannien – , in Ägypten sind immer noch Generäle an der Macht, und die Muslimbrüder wollen die Macht. In Syrien haben verschiedene Länder wie Iran, die Türkei und Saudiarabien Einfluss.

swissinfo.ch: Denken Sie nicht, dass die Nordkoreaner den Machtwechsel als ihre Chance sehen und auf Freiheit drängen?

A.S.: Die Nordkoreaner wollen nur genug zu essen haben. Das ist ihre Priorität. So einfach ist das.

swissinfo.ch: Falls sich Nordkorea öffnen sollte, gibt es in dem Land Bürokraten, die das Land regieren könnten?

A.S.: Es hängt davon ab, wie die Nachfolge abläuft. Wenn es in der Armee Fragen gibt, weil der Sohn Kim Jong Un keine militärische Karriere machte, dann ist ein Machtkampf unter Generälen möglich.

swissinfo.ch: China ist ein wichtiger Alliierter Nordkoreas, und Peking hat erklärt, es werde die Unterstützung aufrechterhalten und “aktive Beiträge für Frieden und Stabilität” in der Region leisten. Fürchtet sich China vor einem raschen Wandel?

A.S.: Die Chinesen sind auf eine Verschlechterung der Situation in Nordkorea vorbereitet: die chinesische Armee würde in den Norden von Nordkorea einmarschieren, weil viele Menschen nach China flüchten würden. Und in der chinesischen Provinz, die an Nordkorea angrenzt, sind 30% der Bevölkerung Koreaner.

Die Chinesen würden vermutlich die Hälfte Nordkoreas besetzen und die Atomwaffen beschlagnahmen – denn das ist eine sehr gefährliche Situation. China möchte auch den Russen zuvorkommen, die sich ebenfalls für die Situation in Nordkorea interessieren.

swissinfo.ch: Was die Atomwaffen betrifft, kommt Kim Jong Ils Tod für den US-Präsidenten Barack Obama zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt. Dieser überlegt sich derzeit, dieses Thema mit Pjöngjang wieder aufzunehmen. Soll er?

A.S.: Langfristig schon. Falls sich Nordkorea stabilisiert, sollte man auf jeden Fall wieder Diskussionen über die Atomwaffen aufnehmen. Im Moment ist aber die unmittelbare Situation in Nordkorea wichtiger.

Sollte sich die Lage verschlechtern und die Chinesen würden einmarschieren, wären auch Südkorea und logischerweise die USA betroffen, weil dann Menschen nach Südkorea flüchten würden.

Das wäre auch eine Frage: Wie würde Südkorea reagieren, und würden sich die USA damit einverstanden erklären, falls die südkoreanische Armee in Nordkorea einmarschieren würde.

swissinfo.ch: In welcher Art werden sich die Beziehungen zwischen Nord- und Südkorea verändern?

A.S.: Im Moment werden sie das nicht wirklich tun. Es herrscht ein sehr geschlossenes System, in Wirklichkeit eine Nomenklatur, deren einziges Ziel das eigene Überleben ist, dass wer Teil des Systems ist, seine Rechte und all die schönen Dinge wie Geld usw., behalten kann. Da wird sich nichts ändern.

swissinfo.ch: 2008 hat die Schweiz entschieden, ihre Hilfe auf Ende 2011 zu beenden. Sollte dieser Entscheid noch einmal überprüft werden?

A.S.: Meiner Meinung nach sollte die Schweizer Regierung alle Programme mit Nordkorea auf Eis legen und abwarten, wie sich die Situation entwickelt.

swissinfo.ch: Sind Sie optimistisch, was die Zukunft Nordkoreas betrifft?

A.S.: Ich sehe es eher pessimistisch. Dieser junge Mann muss jetzt, mit Hilfe der Generäle, vorwärtskommen. Das kann gelingen; es könnte aber auch zu vielen Problemen kommen.

Die Schweiz ist zusammen mit Schweden Mitglied der Überwachungs-Kommission, welche die Einhaltung des Waffenstillstands zwischen den beiden Koreas sicherstellt.

Nach der Hungerkatastrophe Ende der 1990er-Jahre war die Schweiz eines der ersten Länder, die humanitäre Hilfe angeboten haben.

Und fast alleine unter all den Geberländern wandelte die Schweiz ihren humanitären Einsatz um in ein langfristiges Entwicklungsprogramm.

Dieses wird von der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) betrieben.

Es ist grösstenteils darauf ausgerichtet, die landwirtschaftliche Leistung zu erhöhen, zielt aber auch auf die bessere Integration Nordkoreas in der internationalen Gemeinschaft.

Die Schweizer Entwicklungs-Zusammenarbeit wurde im Parlament stark kritisiert und wird nach 2011 beendet.

Der dritte Sohn von Kim Jong Il, Kim Jong Un, der voraussichtlich das Erbe seines Vaters antreten wird, verbrachte einige seiner Teenager-Jahre in einer Schule bei Bern.

(Übertragen aus dem Englischen: Jean-Michel Berthoud und Christian Raaflaub)

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