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“Die SVP muss über die Bücher”

SVP-Strategen stecken am Tag der Wahl ihre Köpfe zusammen. Keystone

Die Schweizer Presse ist sich einig: Diese Bundesratswahl war ein Debakel für die SVP und ein Triumph für die BDP und ihre Bundesrätin. Die Untervertretung der wählerstärksten Partei sei zwar problematisch, von der SVP jedoch weitgehend selbst verschuldet.

“Wie kurios die politische Situation nach diesen Bundesratswahlen ist, zeigt sich symbolhaft darin, dass im nächsten Jahr die Vertreterin einer 5-Prozent-Partei die Schweizer Regierung präsidieren wird. So etwas hat es in der Geschichte der modernen Schweiz noch nie gegeben”, schreibt Der Bund.

Dass im Bundesrat alles beim Alten bleibe, ausser dass der Sozialdemokrat Alain Berset neu darin sitze, sei keine Katastrophe.

Allerdings, so heisst es im Tages-Anzeiger, hinterlasse dies bei Demokraten ein ungutes Gefühl. “Denn mit der Missachtung des SVP-Anspruchs auf einen zweiten Bundesrat wurde nicht nur die Partei gedemütigt, sondern auch mehr als ein Viertel der Wählerinnen und Wähler.” Und das vertrage sich schlecht mit der Konkordanz.

Auch für den Tessiner Corriere del Ticino ist unbestritten, dass die stärkste Partei mit zwei Bundesräten vertreten sein sollte. “Aber die Konkordanz ist nicht eine reine Formel der Parteien-Vertretung in der Regierung. Es ist auch die konkrete Fähigkeit, konstruktive Kompromisse und Lösungen zu finden.”

Problematische Asymmetrie

Für die Basler Zeitung geht mit der gestrigen Wahl eine Epoche zu Ende. “Was auch immer an schwierigen Entscheiden auf diese neue, unrepräsentative Regierung zukommt, sie wird dafür die Verantwortung tragen – die stärkste Partei, die SVP, ist nicht mehr ausreichend eingebunden.”

Umso leichter, umso wirkungsvoller könne sie von Fall zu Fall gegen den Bundesrat opponieren, so die BaZ. “Ob diese neue Lage nach dem Untergang der Konkordanz dem Land helfe oder nicht, wird sich weisen.” Zweifel seien angebracht.

Ähnlich tönt es in der Genfer Tageszeitung Tribune de Genève: “Durch die Bestätigung dieser exotischen Konstellation, in der die grösste Partei und die winzige BDP gleich stark vertreten sind, haben die Parlamentarier das elementare Gesetz des Gleichgewichts verletzt.”

Mit der BDP, der neuen politischen Heimat von Eveline Widmer-Schlumpf, etabliere sich eine Kleinpartei als fünfte Kraft im Bundesratszimmer. Die Zeche zahle mit der SVP ausgerechnet die klar wählerstärkste Partei.

“Diese Konstellation ist neu, und sie ist risikobehaftet”, schreibt die Neue Zürcher Zeitung. Das schweizerische Politsystem sei zwar nicht aus den Angeln gehoben worden, “aber es ist trotzdem unklug, die Kräfteverhältnisse in der Landesregierung asymmetrisch abzubilden”.

Rätselhafte Strategie

Auch das Boulevard-Blatt Blick betont das arithmetische Anrecht der SVP auf einen zweiten Sitz. “Sie hätte ihn wohl auch bekommen, hätte die SVP-Rennleitung nicht so ziemlich alles vergeigt, was es zu vergeigen gab. Verantwortlich: Blocher, Bader, Brunner.” Dieses Problem müsse die SVP lösen, sonst zerreisse es die Partei.

Die Strategie der SVP-Führung bei der Vorbereitung ihrer Kandidaturen für die Bundesratswahl gibt auch anderen Kommentatoren Rätsel auf. Das Westschweizer Blatt Le Temps vergleicht die SVP mit einem “kopflosen Huhn”, das den Kandidaten Jean-François Rime “in einen mitleiderregenden und von allem Anfang an verlorenen Kampf geschickt hat”.

Mit der überhasteten Nomination von Bruno Zuppiger habe sich die Führungsriege um Christoph Blocher einen peniblen Fehltritt geleistet, schreibt die NZZ. “Den Wahltag selbst absolvierte die SVP mehr grollend als rollend. Wer die personellen Hausaufgaben nicht gemacht hat, muss sich nicht wundern, wenn die Quittung auf Fuss folgt.”

SVP und Widmer-Schlumpf gefordert

Die SVP stehe vor einem Erneuerungsprozess, schreibt Der Bund. Blocher, der die SVP mit genialem Instinkt und Strategiegespür zur stärksten Partei gemacht habe, müsse lernen, dass “er nicht unfehlbar ist, dass er loslassen muss und die Partei nicht länger lenken kann wie Lenin die Bolschewiken. Verpasst Blocher den geordneten Rückzug, dauert es einfach länger, bis wieder kluge Köpfe mitdenken und sich um wichtige Ämter bewerben”.

Auch die NZZ schreibt, Blocher und Co. müssten jetzt selbstkritisch über die Bücher, denn die Zeichen mehrten sich, “dass das System Blocher nicht mehr wie ein geölter Blitz funktioniert”.

Gefordert sei aber auch Eveline Widmer-Schlumpf, unterstreicht die Neue Zürcher Zeitung: “Sie wird mithelfen müssen, die ramponierte Konkordanz behelfsmässig zu kitten. Unerwünscht ist, dass sie den in letzter Zeit praktizierten Schmusekurs mit der Ratslinken fortsetzt.” Den Sprung in den Bundesrat habe die Bündnerin nicht als Genossin im SVP-Mäntelchen geschafft, sondern als bürgerliche Musterschülerin.

Der 39-jährige Freiburger SP-Ständerat Alain Berset wurde im zweiten Wahlgang mit 126 Stimmen in den Bundesrat gewählt. Sein parteiinterner Konkurrent Pierre-Yves Maillard kam auf 63 Stimmen.

Das Rennen war bis zuletzt offengeblieben, da die anderen Fraktionen beide Bewerber als valable Kandidaten für den Bundesrat beurteilt hatten.

Die Wiederwahl von Eveline Widmer-Schlumpf hatte sich in den letzten Tagen abgezeichnet. Tatsächlich wurde die 55-jährige Bündnerin am Mittwoch bereits im ersten Wahlgang bestätigt. Bei einem absoluten Mehr von 120 Stimmen kam sie auf 131 Stimmen, was ungefähr der Stärke jener Fraktionen entspricht, die ihr die Unterstützung zugesichert hatten.

Keine Chance hatten die Kampfkandidaten der SVP: Der Thurgauer Nationalrat Hansjörg Walter erreichte 63, sein Freiburger Ratskollege Jean-François Rime 41 Stimmen. Obwohl dies ziemlich genau den Stimmen von FDP und SVP entspricht, bezichtigte SVP-Fraktionschef Caspar Baader vereinzelte FDP-Mitglieder, ihre Stimme der BDP-Bundesrätin gegeben zu haben.

Auch die übrigen amtierenden Bundesräte schafften ihre Wiederwahl im ersten Wahlgang: Doris Leuthard erhielt 227 gültige Stimmen, Ueli Maurer 159, Didier Burkhalter 194, Simonetta Sommaruga 179 und Johann Schneider-Ammann 159. Wiedergewählt wurde auch Bundeskanzlerin Corina Casanova.

Widmer-Schlumpf amtet im kommenden Jahr zudem als Bundespräsidentin. Die Vereinigte Bundesversammlung wählte die frisch wiedergewählte Bundesrätin mit 174 bei 239 gültigen Stimmen.

Vizepräsident des Bundesrates wird mit 122 von 170 gültigen Stimmen SVP-Bundesrat Ueli Maurer.

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