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“Ein Waffenstillstand bedeutet noch lange nicht Frieden”

Georgische Vertriebene aus Gori auf einem Lastwagen, unterwegs nach Tiflis. Keystone

Die Bilder von zerbombten Häusern und flüchtenden Menschen in Georgien haben in den letzten Tagen für Erschütterung und Unverständnis gesorgt. Es werde noch lange gehen, bis Georgien zur Normalität zurückkehre, sagt die georgische HEKS-Koordinatorin Nana Topuridze in Tiflis.

swissinfo: Der georgische Präsident Michail Saakaschwili hat das abtrünnige Südossetien mit Gewalt “zurückerobern” wollen und damit Russland gewissermassen herausgefordert. Weshalb geniesst er in der Bevölkerung immer noch so grosse Unterstützung?

Nana Topuridze: Nach den jüngsten Ereignissen geht es der Bevölkerung in erster Linie darum, gegenüber dem Nachbar Russland Solidarität und Einheit zu demonstrieren.

Russland möchte eine pro-russische Regierung. Doch ich glaube nicht, dass die georgische Bevölkerung eine solche Regierung unterstützen wird.

swissinfo: Georgien hat sich nach dem Militäreinsatz Russlands vor zehn Tagen von einer Minute auf die andere in ein Kriegsgebiet verwandelt. Wie haben Sie die letzten Tage erlebt?

N.T.: Georgien hat schreckliche Tage hinter sich. Tote, Verletzte, Bomben – es war die schlimmste Woche, die Georgien je erlebt hat.

Der Weg zu Demokratie und Unabhängigkeit, der das letzte Jahrzehnt prägte, war nicht einfach. Doch die Ereignisse der letzten Woche waren ein regelrechter Schock.

Besonders schwierig waren die ersten Tage: Wir fühlten uns hilflos und hoffnungslos. Wir fühlten uns mit Russland allein gelassen, hatten das Gefühl, dass der Westen uns hängen lässt. Dieses Gefühl des Ausgeliefertseins war fürchterlich. Wir konnten die Logik dieses Krieges nicht begreifen.

Wir leben heute immer noch in einer gewissen Unsicherheit. Russland hat inzwischen offiziell den Militäreinsatz gegen Georgien gestoppt, doch niemand traut Russland.

swissinfo: Am Dienstag hat Russland eine Waffenruhe angekündigt. Ist dieser zu trauen?

N.T.: Auf die Ankündigung der Waffenruhe folgten erneut Meldungen, dass Kampfflugzeuge die georgische Stadt Gori bombardierten. Dabei wurde auch ein ausländischer Journalist getötet.

Russische Panzer rollten immer noch durch die Strassen von Gori. Auch in Westgeorgien sind noch russische Truppen stationiert.

Wir merkten, dass ein Waffenstillstand noch keinen Frieden bedeutet. Es ist noch ein langer Weg bis zum Tag, wo Georgien zur Normalität zurückkehrt.

Trotz allem hat sich die Situation für die Bevölkerung verbessert. Das Wichtigste für die Bevölkerung ist, zu wissen, dass sie auf die Unterstützung aus dem Westen zählen kann.

swissinfo: Im Westen gab es widersprüchliche Meldungen über die Kriegsentwicklungen. Inwiefern konnte sich die Bevölkerung in Georgien über die Lage informieren?

N.T.: Am ersten Tag gab es ein kleines Informationsloch. Doch bereits am zweiten Tag waren Journalistenberichte und Videomaterial verfügbar. Auch der Internetzugang funktionierte.

Die russischen Sender waren gekappt, doch BBC, EuroNews und CNN konnten empfangen werden.

swissinfo: Waren vor Ausbruch der militärischen Aktionen Spannungen spürbar?

N.T.: Unter der Bevölkerung waren absolut keine Spannungen spürbar. Gemäss Statistiken sind 70 Prozent der Ehen in Südossetien gemischte Ehen zwischen Südossetiern und Georgiern. Es bestehen auch enge Beziehungen zu Georgien, da viele in Südossetien Verwandte hier haben.

Der Konflikt mit Russland ist sehr alt. Mit dem Angriff wollte Russland uns dafür bestrafen, dass wir ein anderes Leben leben wollen. Dass wir uns gegen Westen orientieren, dass wir nach Demokratie streben. Wir dachten, früher oder später werden sie uns für all das bestrafen – am Freitag vor einer Woche war es dann so weit.

swissinfo: Inwiefern sind die HEKS-Projekte in Georgien tangiert?

N.T.: Unsere Projekte in Georgien, aber auch die Regionalprojekte mit Armenien und Aserbeidschan, sind direkt oder indirekt durch den Konflikt betroffen.

Die Ereignisse direkt zu spüren bekam auch ein Lager für armenische Kinder in Georgien. Die Kinder kehrten am 10. August aus Sicherheitsgründen nach Hause zurück.

Angesichts der kritischen Lage beschlossen wir, unsere Projekte für eine Woche auf Stand-by zu stellen und uns um die Nothilfe für die intern Vertriebenen zu kümmern. Wir hoffen, dass sich die Situation bald normalisieren wird.

swissinfo: Wie können die Hilfsorganisationen im Moment der betroffenen Bevölkerung helfen?

N.T: Das Problem sind die nach UNO-Angaben rund 90’000 Vertriebenen in Georgien, die buchstäblich ohne Geld und Kleider aus den Konfliktgebieten davonrannten. Allein Gori zählt 40’000 Vertriebene.

Es geht nun in erster Linie darum, die Flüchtlinge mit Lebensmitteln und Unterkünften zu versorgen.

Wir arbeiten im Moment mit anderen internationalen Organisationen zusammen, um die Unterstützung der Opfer dieses Krieges und eine schnellst mögliche Rückführung der intern Vertriebenen zu koordinieren.

In Südossetien haben Hilfsorganisationen, wie zum Beispiel das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), lange keinen Zutritt erhalten, um der Zivilbevölkerung zu helfen.

swissinfo-Interview: Corinne Buchser

Das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen Schweiz (HEKS) leistet für 100’000 Franken Soforthilfe in Georgien: Die HEKS-Partnerorganisation Lazarus verteilt in Tiflis Nahrungsmittel an die Flüchtlinge aus Südossetien, dem Kodori-Tal und der Region um Gori.

Die intern Vertriebenen werden in der georgischen Hauptstadt im Moment in Kindergärten, ehemaligen Regierungsgebäuden und Feuerwehrhäusern, leeren Hotels und Schlafsälen von Schulen oder Spitälern untergebracht.

Lazarus führt gemeinsam mit HEKS seit Jahren im Rahmen friedensfördernder Aktivitäten Sommerlager für Kinder und Jugendliche aus Armenien und Georgien durch. HEKS unterstützt zudem Berufs-Ausbildungen für benachteiligte Jugendliche in Tiflis.

Das HEKS ist seit Beginn der 1990er-Jahre im Südkaukasus im Einsatz. Für die Projekte in Georgien, Armenien und Aserbeidschan ist ein Jahresbudget von rund 1,5 Mio. Franken vorgesehen.

7.8.: Der Konflikt beginnt in Südossetien, als Georgien versucht, die Kontrolle über die abtrünnige Region zurückzuerobern.

8.8.: Russland reagiert mit einer Militäraktion zur Unterstützung der Abtrünnigen.

9.8.: Die Georgier müssen sich zurückziehen. Russische Flugzeuge greifen auch die georgische Stadt Gori an. Der bewaffnete Konflikt greift auf die ebenfalls nach Unabhängigkeit strebende Provinz Abchasien über.

10.8.: Die moskautreuen Machthaber in Abchasien mobilisieren ihre Truppen, die gegen georgische Stellungen vorrücken.

11.8.: Im Beisein des EU-Ratsvorsitzenden Bernard Kouchner unterschreibt der georgische Präsident Michail Saakaschwili eine von Russland verlangte Verpflichtung zur Waffenruhe.

12.8.: Der russische Präsident Dmitri Medwedew befiehlt die Einstellung der Kampfhandlungen. Die Truppen sollen aber weiterhin vor Ort bleiben.

Die Zahlen über die Anzahl Todesopfer sind widersprüchlich. Es ist von mehreren Hundert Toten die Rede. Die UNO-Flüchtlingsbehörde UNHCR spricht von rund 90’000 Vertriebenen.

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