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“Es wird sich zeigen, dass die EU im Russland-Ukraine-Konflikt so gut wie keine Rolle spielt”

Gwendolyn Sasse

Die Gespräche zwischen den Vereinigten Staaten und Russland in Genf sind ein Sieg für Wladimir Putin, der dem Westen seine Agenda aufgezwungen hat, schreibt Gwendolyn Sasse, Direktorin des Zentrums für Osteuropa und internationale Studien in Berlin, in ihrer Analyse der Ereignisse. Und die EU werde marginalisiert.

Die vielfältigen diplomatischen Aktivitäten sind die Antwort des Westens auf die neue russische Aufrüstung nahe der ukrainischen Grenze und die Forderung des russischen Präsidenten Wladimir Putin nach einer formellen Vereinbarung über einen Stopp der NATO-Osterweiterung.

Frühere Gespräche von US-Präsident Jo Biden und Putin haben den Boden bereitet für die Verhandlungen, die am 9. Und 10. Januar zwischen den USA und Russlands in Genf stattfinden, die NATO-Russland-Gespräche am 12. sowie ein OSZE-Treffen am 13. Januar. Die Gespräche in Genf werden den Ton für den Rest der Woche setzen.

Die Schweiz wird in ihrer Rolle als neutrales Gastgeberland für langwierige internationale Verhandlungen eine wichtige Rolle spielen. Gleichzeitig wird sie mehr als nur eine neutrale Beobachterin sein, sollten weitreichende Finanzsanktionen gegenüber Russland auf den Tisch kommen.

Die Ausgangslage der Gespräche, kurz zusammengefasst, finden Sie hier:

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Die rasche Abfolge hochrangiger diplomatischer Treffen zwischen den USA und der NATO steht im Kontrast zu den letzten Jahren, in denen die Kontakte minimal waren. Sie ist dem dringenden Bedürfnis nach Deeskalation geschuldet, in einer Situation, die leicht ausser Kontrolle geraten könnte – entweder infolge bewusster Entscheide oder wenn die zentrale Kontrolle über die Ereignisse vor Ort verloren geht.

Putin hat dem Westen diese Krisendiplomatie aufgezwungen. Aus seiner Sicht ist bereits das ein Erfolg: Er demonstriert der Welt und den russischen Bürger:innen und Eliten sichtbar, dass Russland eine global bedeutende Macht ist, mit der man rechnen muss. US-Präsident Biden hat sich dafür entschieden, Putin auf der internationalen Bühne als gleichwertig zu behandeln und damit seinen Blick über China als Hauptgegner der USA hinaus zu erweitern.

Diese verspätete Anerkennung der globalen Bedeutung des postsowjetischen Russlands ist eines der beiden Hauptziele der russischen Aussenpolitik. Das zweite Ziel ist die Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung des russischen Einflusses in ausgewählten Nachbarländern, vor allem in der Ukraine, aber auch in Georgien, Weissrussland und, wie die aktuellen Ereignisse zeigen, in Kasachstan. 

Maximalforderungen

Die diplomatischen Gespräche werden den Spielraum für eine neue Art von russisch-amerikanischer Diplomatie, die auf der Grundlage klar formulierter divergierender Interessen steht, auf die Probe stellen. Putin hat diesen Spielraum bereits wirksam eingegrenzt, indem er Schlüsseldokumente, die er besprechen will, veröffentlicht hat.

Die russische Position ist als eine Liste von Forderungen formuliert, die nicht erfüllt werden können und wenig Raum für tatsächliche Verhandlungen lassen.

Es ist daher durchaus möglich, dass Putin die Gesprächsrunde lediglich instrumentalisieren will, als ein Versagen des Westens gegenüber einem verhandlungsbereiten Russland, um sich innenpolitisch die Legitimation zu verschaffen, den militärischen Druck auf die Ukraine zu erhöhen.

Am wichtigsten ist, dass Putin auf einem formellen Abkommen besteht, das eine künftige NATO-Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens ausschließt, die militärischen Stationierungen der NATO an ihrer Ostflanke begrenzt und die militärische Unterstützung der USA für die Ukraine einschränkt. Hinter diesen Forderungen verbirgt sich die Idee einer neuen Sicherheitsarchitektur in Europa.

Die USA, die NATO, die OSZE und die EU agieren auf der Grundlage einer bestehenden Sicherheitsarchitektur, die ihre Wurzeln in der UNO, der NATO und der OSZE hat. Unter diesem Dach sehen sie vor allem Raum für eine neue Generation von Rüstungskontrollverträgen und Vereinbarungen über bisher ungeregelte Bereiche wie die Cybersicherheit.

Partikularinteressen in der EU

Obwohl Biden versucht hat, seine Position mit den NATO-Verbündeten und der EU abzustimmen, wird der Schwerpunkt in der kommenden Woche auf den amerikanisch-russischen Beziehungen liegen. Putin bevorzugt ohnehin bilaterale Beziehungen – innerhalb der EU und, was noch wichtiger ist, mit den USA, wobei er die EU völlig umgeht.

In der kommenden Woche wird sich zeigen, dass die EU in der gegenwärtigen Krise so gut wie keine Rolle spielt und dass es keine kohärente EU-Russland-Politik gibt. Die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen der einzelnen EU-Mitgliedstaaten zu Russland unterscheiden sich massiv, ebenso wie die allgemeine Priorisierung der Notwendigkeit einer EU-weiten Politik gegenüber Russland. 

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Es ist unvorstellbar, dass die NATO sich von Russland die Bedingungen für die künftige Erweiterungspolitik diktieren lässt. Die grösste Herausforderung für die US-Verhandlungsführer und die NATO wird darin bestehen, die Folgen eines weiteren russischen militärischen Engagements in der Ukraine zu präzisieren.

Es kann strategisch sinnvoll sein, im diplomatischen Kontext keine Einzelheiten über die Reaktion auf bestimmte Aktionen zu nennen. In diesem Fall aber ist es notwendig, sich über die Art und die Reihenfolge der Massnahmen im Klaren zu sein, um die schrittweise Taktik des Kremls seit der Annexion der Krim im Jahr 2014 zu unterbrechen. 

Weitreichende Sanktionen

Die USA und die EU müssen eine kohärente Botschaft zu zwei potenziell schmerzhaften Sanktionen vorlegen: ein Moratorium für North Stream II – ein System von Offshore-Erdgaspipelines in Europa, die unter der Ostsee von Russland nach Deutschland verlaufen – und eine Reihe von Finanzsanktionen, insbesondere gegen staatliche Banken, ein Ausschluss russischer Banken von den Zahlungssystemen Visa und Mastercard und der Ausschluss Russlands aus dem internationalen Finanzkommunikationssystem SWIFT. 

Sanktionen sind immer auch mit Kosten für diejenigen verbunden, die sie verhängen. Deutschland hat die geopolitische Dimension von North Stream II lange heruntergespielt, und die neue deutsche Regierung ist intern uneins darüber, ob sie weiterhin wirtschaftlichen Interessen Vorrang vor politischen und ökologischen Erwägungen einräumen soll.

Sollte Russland aus dem SWFIT ausgeschlossen werden – ähnlich wie der Iran im Jahr 2018 -, müssten in- und ausländische Unternehmen und Banken, darunter auch Schweizer Banken, einen kostspieligen Übergang zu alternativen Systemen vollziehen, die von dem von der russischen Zentralbank koordinierten System SPFS bis hin zu ähnlichen Systemen reichen, die in der EU, in China oder im Iran entwickelt werden.

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Die gegenwärtige Herausforderung für die USA und die NATO gegenüber Russland besteht darin, eine glaubwürdige Abschreckung mit einem Plan für eine deeskalierende Abfolge von gegenseitig vereinbarten Schritten zu verbinden.

Diese Abfolge würde eine Verringerung der aufrührerischen Rhetorik und den Rückzug der russischen Truppen von der ukrainischen Grenze beispielsweise mit einer vorübergehenden Einstellung der Militärübungen im Schwarzen Meer und in der Ostsee mit Beteiligung der USA, der NATO oder Russlands, der Wiederbesetzung der diplomatischen Vertretungen der USA und Russlands und der Wiederaufnahme der Friedensgespräche im Donbass mit einer grösseren Rolle der USA verbinden.

Die Wahl Genfs als Ort für das erste Gipfeltreffen zwischen Biden und Putin im Juni 2021 und für die Fortsetzung der amerikanisch-russischen Verhandlungen am 9. und 10. Januar unterstreicht die historische Rolle der Schweiz als Vermittlerin in internationalen Verhandlungen mit hohem Risiko. Im Hinblick auf die Beziehungen zu Russland ist das Bild der Schweiz als neutraler Akteurin jedoch ein Mythos.

*Prof. Dr. Gwendolyn Sasse ist Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin und Professorin für das vergleichende Studium von Demokratie und Autoritarismus an der Humboldt-Universität.

Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten sind ausschliesslich jene der Autorin und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.

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