Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

“Freie Sicht aufs Mittelmeer”

Vor allem Start-up-Unternehmen der Pharmabranche und der Biotechnologie finden das Tessin als Standort attraktiv. swissinfo.ch

Die jüngsten wirtschaftlichen Entwicklungen im Tessin sind vielversprechend. Das Tessin könnte sich zum Schweizer Tor des Mittelmeer-Marktes mausern - sofern vermehrt Unterstützung ennet des Gotthards kommt.

Ermenegildo Zegna, der italienische Nobelschneider, ist der weltgrösste klassische Herrenausstatter. Hollywoodstars wie Will Smith, Bruce Willis und Sean Penn tragen seine Massanzüge. Designt werden die teuren Kleider in Italien, zurechtgeschnitten und zusammengenäht jedoch im Tessin. Zegna ist mit seinen 800 Angestellten der grösste Arbeitgeber der lokalen Bekleidungsindustrie.

Das italienische Unternehmen nimmt die höheren Lohnkosten in Kauf, da das Tessin ihm bietet, was Billiglohnländer nur selten können: soziale Sicherheit, gute Beziehungen zu den Behörden, ein unternehmerfreundliches Steuersystem und ideale Vertriebsmöglichkeiten. Zudem profitiert die Firma von der Nähe zu Italien. Weit mehr als die Hälfte der Angestellten sind Grenzgängerinnen und Grenzgänger.

Pharma, Biotechonologie und IT-Business

Auf einem 50’000 Quadratmeter grossen Gelände in Barbengo planen die Cerbios-Pharma SA und die Unione Farmaceutica SA den ersten Pharma-Park der Schweiz. Angesprochen sind vor allem kleinere und mittlere Unternehmen. Die Nähe zur italienischen Grenze sowie zu Lugano und zu den Flughäfen Agno (CH) und Malpensa (I) sind ideale Voraussetzungen für einen Industriestandort.

Die jüngsten Entwicklungen in der Tessiner Wirtschaft sind vielversprechend, wie die beiden Beispiele zeigen. Das Bruttoinlandprodukt wächst wieder leicht. Die dynamischsten Branchen heissen Pharma, Biotechnologie und Elektrotechnik. Für entsprechende Start-up-Unternehmen sei das Tessin durchaus attraktiv, bestätigt Rico Maggi, Professor an der Universität der italienischen Schweiz und Direktor des Institutes für ökonomische Studien (IRE) in Lugano. “Die Marktöffnung gegen Mailand und das gute Klima ziehen viele Unternehmer an.”

Dennoch: Das Tessin ist noch immer der Kanton mit der höchsten Arbeitslosigkeit in der Schweiz und Arbeitnehmer südlich des Gotthards verdienen durchschnittlich weniger als ihre Kollegen in der deutschen oder französischen Schweiz.

Industrialisierung übersprungen

“Das Tessin kannte praktisch keine Industrialisierungsphase”, erklärt Maggi. Der Kanton hätte sogleich nach dem Krieg den Finanz- und Versicherungssektor aufgebaut und in den Tourismus sowie in den Immobilienbereich investiert. “International besitzt die Tessiner Wirtschaft zwar gute Verbindungen, doch sie ist nicht Teil eines grösseren Wirtschaftsraumes.” Laut Maggi wäre Potenzial vorhanden, doch alles sei zu kleinräumig und ein modernes Management fehle.

Die Grenzlage beispielsweise bietet durchaus Vorteile. Arbeitnehmer wie -geber profitieren von den unterschiedlichen Gesetzgebungen. Von Italien kommen die Grenzgänger, aus der Schweiz weniger restriktive Gesetze und bessere Sozialleistungen.

Doch eine optimale Entwicklung wird durch die Tatsache erschwert, dass sich das Tessin in der Peripherie befindet, fern von politischen Entscheidungszentren. “Wir zahlen einen hohen Preis für die Vorteile der Grenze. Ohne die Grenze wäre das Tessin nur ein Vorort von Mailand. Andererseits sind wir hier weit weg von den Politmärkten. Zwischen Bern und Rom läuft alles über unsere Köpfe hinweg.”

Attraktiver Wirtschaftsraum

“Das Tessin ist viel wichtiger als die knapp 5 Prozent der Bevölkerung, die es vertritt”, ist der Direktor des IRE überzeugt. Es könnte ein Brückenkopf, ein Ausgangspunkt sein für die Eroberung des Marktes von Norditalien und des weiteren Mittelmeerraumes.” In Zukunft, so Maggi, werden die Ost-West-Beziehungen südlich der Alpen stark zunehmen. Insofern sei der Zugang zu diesem Markt, dessen Metropole Mailand heisse, sehr wichtig.

“Das Tessin”, fasst Maggi zusammen, ” kann für die schweizerische Wirtschaft eine Integrationsfunktion in diesem sehr stark wachsenden Markt im Süden spielen.” Es brauche aber Unterstützung von Bern. Bern müsse sich aktiver für die Interessen des Tessins in der erweiterten Agglomeration Mailands einsetzen, fordert der Wirtschaftsprofessor. Nur so könne der Südkanton seine Brückenkopf-Funktion auch wahrnehmen.

Carole Gürtler, Lugano

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft