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“Führungskräfte erholen sich schneller”

Der Herzchirurg Thierry Carrel in seinem Büro im Inselspital in Bern. swissinfo.ch

Mitte September hat der Herzchirurg Thierry Carrel dem Schweizer Finanzminister Hans-Rudolf Merz nach einem Zusammenbruch einen fünffachen Bypass gesetzt. Über Verantwortung, Stress und Schweigepflicht spricht Carrel mit swissinfo.

Nach der Operation hatte der Arzt dem Finanzminister empfohlen, sich zu schonen. Jetzt hat Merz angekündigt, Anfang November wieder im Amt zu sein und nächstes Jahr Bundespräsident werden zu wollen.

swissinfo: Herr Carrel, handelt Hans-Rudolf Merz vernünftig?

Thierry Carrel: Ich gehe davon aus, dass er sich gut fühlt, habe aber seit seiner Entlassung aus dem Spital keinen Kontakt mit ihm gehabt.

Gerade Führungskräfte erholen sich offenbar schneller von Schwächen und Krankheiten als andere und kehren früher wieder in ihr Amt zurück. Ob dies vernünftig ist, muss Herr Bundesrat Merz für sich entscheiden.

swissinfo: Sie selbst arbeiten bis zu 100 Stunden pro Woche. Gesund ist das nicht. Sollten Sie es als Arzt nicht besser wissen?

T.C.: Die Frage ist, ob die Überzeit, die man leistet, Stress ist oder einfach viel Arbeit mit weniger Erholungsmöglichkeiten. Wenn im Operationssaal sehr viel Arbeit anfällt und ich diese mit Freude mache, empfinde ich es nicht als Stress.

Wenn ich allerdings mehrere Termine eng aufeinander oder sogar gleichzeitig habe und kaum die Möglichkeiten, zu delegieren, weil ich zu wenig Personal habe, dann bin ich gestresst.

swissinfo: Wie gehen Sie damit um?

T.C.: Ich nutze die kleinen Zeitinseln, die ich in meinem gut organisierten Arbeitsalltag habe. Ein bis zwei Mal pro Woche mache ich eine Fitnessstunde, aus Zeitgründen zwar nicht in der Natur, sondern im Fitnessstudio des Inselspitals.

Manchmal gehe ich zu Fuss nach Hause statt mit dem Bus, um etwas Bewegung zu haben. Ich lebe alles, auch die Erholung, intensiver als früher. Diese Lebensphilosophie habe ich mit den Jahren entwickelt.

swissinfo: Wie sammeln Sie sich vor Operationen?

T.C.: Jeder Patient hat das Recht darauf, dass ich mich voll auf ihn konzentriere. Wenn ich von einer Besprechung heraus gerufen werde und unerwartet in den Operationssaal muss, nehme ich mir Zeit, und seien es nur ein paar Minuten, um mich auf das Bevorstehende einzustellen.

swissinfo: Wie vereinbaren Sie die hohe Arbeitsbelastung mit Ihrem Privatleben?

T.C.: In einem solchen Beruf mit dieser Führungsverantwortung braucht es sehr viel Verständnis von der Familie und dem Umfeld. Das ist gerade für ein Kind nicht leicht.

Ich habe gelernt, dass kleine Aktivitäten wie gemeinsam kochen und essen sehr wichtig sind. Ich helfe meiner Tochter bei den Hausaufgaben, sie darf am Abend länger aufbleiben. Man kann vieles unter einen Hut bringen, aber es ist gedrängt.

swissinfo: Als Bundesrat Merz im September ins Inselspital geflogen wurde, waren die Medien schon da. Wie nah dürfen diese rangehen, und wo wird die Privatsphäre eines Patienten verletzt?

T.C.: Das ist ein heikles Thema, weil es keine Normen gibt. Bei Bundesrat Merz haben wir uns strikt an die Wünsche seiner Familie, die Empfehlungen des Bundesratssprechers und des Mediensprechers des Inselspitals gehalten.

Im Moment, wo das Drehbuch läuft – etwa bei der Verlegung eines Bundesrates von einem Spital in ein anderes -, sind bereits zahlreiche Leute informiert. Wir unterstehen zwar der Schweigepflicht, doch die kann nicht kontrolliert werden.

Die Medien entwickeln eine Eigendynamik, und bis etwas gesagt wird, entstehen Spekulationen. Als wir nach der Operation erklärten, dass wir erst in 48 Stunden wieder informieren würden, war die Hölle los. Die Journalisten suchten überall im Spital nach möglichen Informationsquellen.

swissinfo: Sie operieren nicht nur Prominente. Sehen Sie den Patienten zum ersten Mal, wenn Sie ihn operieren?

T.C.: Bereits in der Sprechstunde mache ich ein Aufklärungsgespräch mit dem Patienten. Ich lege Wert darauf, den Menschen kennenzulernen, den ich operiere. Das ist etwas kostenintensiv und nicht immer im gleichen Ausmass möglich.

swissinfo: Wie fühlt sich das an, wenn man einem Menschen ein fremdes Herz einpflanzt und ihm so das Leben rettet?

T.C.: Ob man eine herkömmliche Herzoperation durchführt oder ein fremdes Herz in einer leeren Brust einpflanzt, ist schon rein wissenschaftlich und medizinisch ein Wagnis.

An der Verantwortung wächst man mit der Zeit. Ich lebe Tag und Nacht in dieser Verantwortung. Selbst wenn ich in den Ferien bin, habe ich de facto die Verantwortung für die Klinik.

swissinfo: Sie werden oft mit dem Tod konfrontiert. Wie gehen Sie damit um, wenn ein Patient stirbt?

T.C.: Das ist eine grosse Belastung, besonders für jüngere Chirurgen. Bei einem kleinen Kind ist es viel schwieriger, den Tod zu akzeptieren als bei einem sehr alten Menschen, der sein Leben gelebt hat.

swissinfo: Vor fünf Jahren ist Ihr Wechsel an die Herzchirurgie der Uni Zürich gescheitert. Seither herrscht zwischen Bern und Zürich eine Rivalität.

T.C.: Wir leisten uns in der Schweiz den Luxus, 5000 Eingriffe im Jahr auf 18 Kliniken aufteilen zu können. Bern hat ein öffentliches und ein privates Herzzentrum und beide pflegen gute Beziehungen.

In Zürich sind zwei öffentliche und zwei private Institutionen tätig; für einen vergleichbaren Patientenaufkommen. Auf die Bevölkerungszahl umgerechnet, operieren die Kliniken in Zürich nur halb soviel wie in Bern; und das dürfte auch ein Grund sein, warum immer wieder Stimmung gemacht wird.

In der Spitzenmedizin sollte es auch darum gehen, wie viele Operationen in welchem Zentrum durchgeführt werden.

swissinfo-Interview: Susanne Schanda

Thierry Carrel wurde 1960 in Freiburg geboren.
Medizin studierte er in Freiburg und Bern.
Nach der Promotion 1985 folgten im In- und Ausland Ausbildungsjahre zum Facharzt für allgemeine Chirurgie sowie für Herz- und Gefässchirurgie.
1993 habilitierte sich Carrel an der Universität Zürich und erhielt anschliessend einen Lehrauftrag an der Universität Bern.
1998 wurde er zum Ordinarius und Direktor der Klinik für Herz- und Gefässchirurgie am Universitätsspital Bern ernannt.

Operationen am Herz werden in der Schweiz in 18 Kliniken durchgeführt.

Davon sind fünf Universitätskliniken: Basel, Bern, Genf, Lausanne, Zürich.

Seit 2007 arbeiten die Universitätskliniken Basel und Bern zusammen, wobei Herztransplantationen in Bern durchgeführt werden.

Zusammenarbeit gibt es auch zwischen den Unikliniken Genf und Lausanne.

Der Kanton Zürich hat zwei öffentliche und zwei private Herzzentren.

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