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“Menschlichkeit missachtet”

Die Kommissions-Mitglieder während der Präsentation ihres Schlussberichtes. Keystone

Geschehenlassen und ein bisschen Profitieren - dies war die Haltung der offiziellen Schweiz im Zweiten Weltkrieg: Dazu kommt eine von der Schweiz eingesetzte Historiker-Kommission.

Das Ergebnis der fünfjährigen Forschung der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (UEK) zeigt, dass die Schweiz fremdes Geld gerne entgegennahm, Hilfe suchenden Menschen jedoch oft den Zutritt verwehrte. Die Schweiz, so die Schlussfolgerung der UEK, hat in dieser Zeit “gegen elementare Gebote der Menschlichkeit” verstossen. “Die Politik unserer Behörden hat dazu beigetragen, das grausame Ziel der Nazis zu verwirklichen, den Holocaust”, fasst UEK-Präsident Jean-François Bergier zusammen.

Laut der UEK nahm die Schweiz während des Krieges rund 60 000 zivile Verfolgte auf, knapp die Hälfte davon Juden. Demgegenüber sei von rund 20 000 Abgewiesenen auszugehen. Zu den Zivil-Flüchtlingen kamen 104 000 Militär-Internierte. Zusammen mit kurzzeitig Aufgenommenen kommt man auf knapp 300 000 Personen, die in der Schweiz Zuflucht fanden. Grossbritannien nahm 1933-45 rund 20 000 zivile Flüchtlinge auf, die USA rund eine Viertel Million.

Aus Nachlässigkeit nicht gehandelt

Die Privatindustrie, so die zweite Erkenntnis, hat eng mit der Wirtschaft der Nazis zusammengearbeitet. Nicht jedoch allein aus Profitgier, sondern auch aus äusserem Zwang: Die damalige Situation schien eine gewisse Zusammenarbeit zu verlangen, wollte man sich selbst schützen und dem wachsenden Einfluss der deutschen Macht teilweise entgehen. Die UEK zeigt auf, dass die Zusammenarbeit nicht aus ideologischen Motiven oder aus Sympathie für das deutsche Regime erfolgte.

Was nun die Problematik der Rückerstattungen nach dem Krieg betrifft, so fanden diese zwar kaum statt, doch auch hier geschah dies nicht aus Böswilligkeit. Vielmehr führten Nachlässigkeit, “die Nichtwahrnehmung des Problems”, wie sich Bergier ausdrückt, dazu, dass kaum Restitutionen ausgeführt wurden.

Kriegsprofiteur Schweiz?

Hat die Schweiz vom Krieg profitiert? “Einzelne Personen und Unternehmen haben aus der Situation Nutzen gezogen”, sagt Historiker und UEK-Kommissions-Mitglied Georg Kreis.

Von einer offensichtlichen Kriegsverlängerung durch die Schweiz – eine von den Alliierten 1944 ins Spiel gebrachte Parole – könne hingegen nur schwer die Rede sein, fügt der Experte hinzu. “Wir Schweizer neigen dazu, uns im Positiven wie im Negativen zu überschätzen.” Zudem sei die Kriegsverlängerungs-Frage äusserst komplex: “Geht es um Tage, um Verluste? Unter Umständen kann auch ein Krieg länger dauern, aber letztlich humaner verlaufen.”

Späte, aber einzigartige Aufarbeitung

Nie war die Schweiz derart unter Druck gekommen, ihre Geschichte aufzuarbeiten und Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen, wie fünfzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges.

In den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts setzte international eine Debatte über Goldtransaktionen zwischen der Schweizerischen Nationalbank und dem nationalsozialistischen Deutschland sowie über nachrichtenlose Vermögen auf Schweizer Banken ein. Vorwürfe wurden laut, weltweit spitzte sich die Kritik zu.

Der Schweiz wurde vorgeworfen, zur Verlängerung des Krieges beigetragen zu haben, indem sie Deutschland immense Kredite gewährte und Kriegsmaterial an den nationalsozialistischen Nachbarn lieferte. Profitiert hätte sie von der weltpolitischen Lage, Flüchtende um deren Vermögen gebracht, Hilfe unterlassen und Gewinne aus moralisch verwerflichen Geschäften gezogen.

Weltweit ein Präzedenzfall

Angesichts wachsender internationaler, insbesondere aber amerikanischer Kritik sah sich die Schweiz gezwungen, diese Geschichtsperiode neu zu untersuchen. Bundesrat und Parlament beschlossen Ende 1996, eine Forschergruppe – die Unabhängige Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg (UEK) – ins Leben zu rufen. Ein Präzedenzfall, weltweit einzigartig.

Entsprechende Historiker-Kommissionen wurden zwar auch in anderen Ländern gebildet, doch in keinem anderen Land erhielt diese Ad-Hoc-Kommission derart grosszügige finanzielle Mittel (22 Mio. Franken), derart viel Zeit (fünf Jahre) und vor allem das ausserordentliche Privileg, Zugang zu allen schweizerischen Archiven fordern zu können – auch zu denjenigen privater Unternehmen wie von Banken, Versicherungen, Industrien.

Kleine Helden, grosse Wirkung

Trotz aller Schatten, Ausnahmen gab es auch damals. Wenn auch die offizielle politische und wirtschaftliche Schweiz versagten, Vorbildliches leisteten Einzelne. Immer wieder unterstützten Hilfswerke Flüchtlinge und vieleMänner und Frauen sorgten sich um die Opfer des Nazi-Regimes.

So schrieb 1943 eine Bernerin einen Leserbrief in der “Berner Tagwacht”: “Wir denken zuviel ans Mehl. Wir sprechen zuviel vom Mehl…..Das Mehl ist unsere grösste Sorge. Vor lauter Mehl sehen wir gar nicht mehr, wie nicht Mehl, sondern ganz andere Dinge, das Recht, die Würde, das freie Wort immer rarer, immer rationierter werden. Vergessen wir hie und da das Mehl! Zum mindesten unser Mehl, und denken wir mehr an die, die weniger oder keines haben.”

Staatsräson versus Staatsmoral

Einzelne haben gehandelt, Vorbildliches, Mutiges geleistet. Die offizielle Schweiz jedoch hat eine Taktik des politischen “Geschehenlassens” verfolgt. Eine Frage war in den Vordergrund gerückt und zugunsten der Staatsräson beantwortet worden: Müssen in Notzeiten Werte eingehalten werden, die der Gegner nicht einhält? An Aktualität hat diese Frage nichts eingebüsst. Die politische Schweiz hat an ihrer Taktik des Abwartens nicht viel geändert.

“Man kann aus der Geschichte eben keine Regeln lernen”, sagt UEK-Mitglied Georg Kreis. “Aus der Geschichte lernt man nur dadurch, indem man aus der Auseinandersetzung mit der Geschichte, eine Grundfähigkeit bekommt im Umgang mit gesellschaftlichen, politischen Entwicklungen.”

Carole Guertler

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