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“Mir ist die Lust am Fussball vergangen”

Provokationen und Flaschenwerfen gegen Polizisten am 1. Mai in Zürich. Keystone

Mitte Woche haben die Polizei-Beamten beim Bundesrat und im Parlament eine Petition gegen Gewalt gegen die Polizei eingereicht. Gesellschaftliche Toleranz habe Grenzen, und Politiker sollen sich gefälligst mehr um dieses unpopuläre Problem kümmern.

“Mir ist definitiv die Lust vergangen, ins Fussball-Stadion zu gehen. Freiwillig gehe ich mir kein Spiel mehr anschauen”, sagt Urs Krügel, Polizist in Luzern, gegenüber swissinfo.ch. “Man sieht die Fans im Stadion mit anderen Augen. Man sieht auch voraus, was sich zusammenbraut. Ich selber kann das Spiel auf dem Rasen deshalb nicht mehr geniessen.”

Der Verband Schweizerischer Polizeibeamter (VSPB), dem Krügel angehört, hat am vergangenen Dienstag in Bern eine Petition eingereicht, worin der Verband eine Anpassung des Strafgesetzbuches fordert: Wiedereinführung der kurzen Haftstrafe und erhöhte Mindeststrafandrohung für Gewalt und Drohungen gegen Beamte.

Allein 2008 ist die Zahl der Gewalt-Fälle, verglichen mit 2000, um über 160% gestiegen. Ohne eine bessere Unterstützung durch Politik und Justiz könne der Zunahme der Gewalt gegen Polizeibeamte kaum begegnet werden, so der VSPB.

Kein schweizerisches, sondern ein gesellschaftliches Problem

Unterbestände und Überstunden, ständige Bedrohungen, auch für die Familie – dass es überhaupt nötig sei, das Thema “Gewalt gegen die Polizei” aufs Tapet bringen zu müssen, erfülle ihn bereits mit Sorge, sagte Heinz Buttauer, VSPB-Präsident, am Freitag am 11. Forum “Innere Sicherheit”.

“Übergriffe auf die Polizei dürfen keine Kavaliersdelikte sein.” Dabei sei die Gewalt kein schweizerisches Phänomen, sondern ein gesellschaftliches.

Die Achtung vor dem Gemeinwesen ganz allgemein sei gefallen, bedauerte Hans-Jürg Käser, Polizeidirektor des Kantons Bern. Auch schaue die Öffentlichkeit oft kritischer auf die Ordnungshüter als auf die Gewaltorgien der Jugendlichen.

So hätte ein Parlamentarier auf dem Bundesplatz einen Polizisten aufs übelste beschimpft, nur weil dieser wegen dem Besuch des russischen Präsidenten Medwedjew für Sicherheit habe sorgen müssen.

Alkoholisierte und Kokain-konsumierende Jugendliche trügen das Ihre dazu bei, dass aus nichtigen Anlässen Gewaltorgien entstünden. Besonders Streifenpolizisten müssten sich beschimpfen und bespucken lassen, ohne Folgen. “In Grossbritannien wird jemand, der Polizeibeamte beschimpft oder bespuckt, abgeführt und angezeigt”, so Käser.

Schwieriges Einschätzen

Wie nehmen denn altgediente Polizisten die Bedrohung wahr? “Sehr unterschiedlich, weil die Bedrohungslagen sehr vielfältig sind”, so Krügel gegenüber swissinfo. “Es kommt auch darauf an, wie sich das Gegenüber darstellt. So kann es sein, dass die Bedrohung verbal bleibt, dass einer vor seiner Gruppe bluffen will, dass aber auch mit einer deutlichen Körpersprache gezeigt wird, dass kein Spass verstanden wird.”

Die Einschätzung dieser Situationen sei sehr schwierig: “Der Polizist weiss nie, was kommt, und muss immer bereit zur Reaktion sein.”

Die Einschätzung werde erleichtert, so Krügel, wenn man die Umgebung und die Akteure bereits kenne: “Man kann die Leute ansprechen und nimmt sie so aus der Anonymität, und man kennt das Verhalten teilsweise bereits. Die ‘Stammkundschaft’ ist wesentlich leichter einzuschätzen.”

Patent-Rezept ‘Deeskalation’?

Gegen eine exzessive Provokation helfe am besten die Erfahrung. “Ich kann mir vorstellen, dass ein junger Polizist viel eher überreagiert als ein gestandener.” Wobei auch das kein Patent-Rezept sei.

Bei gewissen Situationen sei Deeskalation geeignet. Aber Alles lasse sich nicht mit der gleichen Strategie lösen. Für gewisse Probleme seien Frauen geeigneter, zum Beispiel bei häuslicher Gewalt, wo Familienmitglieder beteiligt oder zu viel Emotionen im Spiel oder Kinder betroffen seien.

“Bei direkter Gewalt wie Schlägereien waren Frauen lange Zeit wenig geeignet zum Eingreifen. Doch auch hier ändern sich die Zeiten. Es gibt inzwischen Polizistinnen, die mehr Power drauf haben als mancher Polizist.”

Indirekte Gewalt

Ein Gewaltaspekt, dem Polizisten oft ausgesetzt seien, der aber oft vernachlässigt werde, seien Druckversuche und Einschüchterungen, sagte Beat Hensler, Polizeikommandant der Kantonspolizei Luzern, und erzählte aus eigener Erfahrung:

Fans des FC Zürich hätten mehr als 200 Masken mit seinem Porträt bei “Choreografien” im Stadion benutzt, weil bekannt war, dass er sich für biometrische Kontrollen an Stadieneingängen ausgesprochen hatte.

Und im Internet seien seine Privatadresse und Aufrufe verbreitet worden, ihn doch “zu Hause zu besuchen”.

Gewalt belaste zwar, aber der Umgang damit sei lernbar. Um dem zu begegnen, seien in der Schweiz wie in Deutschland neue Massnahmen in Diskussion: Sofortige statt verspätete Verfahren, weniger bedingte und Geldstrafen, eine separate Jugendpolizei, Mitarbeit in politischen Kommissionen.

Alexander Künzle, swissinfo.ch

In Deutschland kommen rund um Gewalt an staatlichen Institutionen ganz neue Phänomene auf: Neuerdings braucht es auch Polizisten, damit Feuerwehr und Rettungskräfte nicht an ihrer Arbeit gehindert werden.

Nach einem Fussballmatch wurden Polizisten von Fans regelrecht in eine Falle gelockt, um sie besser mit Steinen bewerfen zu können.

Einer versuchte jüngst, einen Polizisten mit einer Axt zu erschlagen.

Weibliche Polizisten, die bisher kaum angegriffen wurden, werden heute genauso bespuckt und geschlagen wie ihre männlichen Kollegen.

Anderseits stellt die Polizei immer mehr Personen mit ausländischen Wurzeln ein, um auf den unterschiedlichen Umgang mit Gewalt besser eingehen zu können.

Im Fussball sei der Trend zu beobachten, dass sich die Gewalt in die 3. und 4. Liga verlagert, da dort die Stadien (noch) nicht entsprechend eingerichtet sind.

Deutschlands Polizisten diskutieren gegenwärtig neue Massnahmen, um die Gewalt besser in den Griff zu bekommen.

So sollen am 1. Mai 2010 Fussball-Spiele untersagt werden, weil es gar nicht soviel Polizei gibt, um die 1.-Mai-Chaoten unter Kontrolle zu halten und gleichzeitig bei den Stadien präsent zu sein (“Polizeilicher Notstand”)

Gewalttätern soll im Wiederholungsfall der Führerschein entzogen werden, weil sie sich dann den nächsten Steinwurf auf einen Polizisten doch noch einmal überlegen.

Am häufigsten angegriffen werden Streifenwagen-Fahrer und mobile Einsatz-Reserven.

Die Angriffe geschehen am häufigsten auf öffentlichen Strassen und Plätzen.

Häufig kommen die Attacken von Männern, im Alleingang, nicht in Risikoquartieren, wobei die Hälfte Schusswaffen trägt.

10% der Polizisten (Streifenpolizisten) gehören zur Hochrisikogruppe, Gewaltakte zu erleiden.

Alkohol- und Kokain-Konsum zieht sich wie ein roter Faden durch die Gewaltakte.

Statistische Unterschiede zwischen den Geschlechtern (bei den Polizisten) sind nicht auszumachen.

(Umfrage Patrik Manzoni, Kriminologe/Soziologe an der Uni Zürich)

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