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“Richter verweigern den Willen des Gesetzgebers”

Strafrechtler und SP-Nationalrat Daniel Jositsch. Dominic Büttner/pixsil.com

Nach den Gewalttaten von drei Schweizer Schülern in München mit einem Schwerverletzten läuft die Diskussion rund ums Thema Jugendstrafrecht heiss. Im Gespräch mit swissinfo.ch nimmt Strafrechtler Daniel Jositsch klar und differenziert Stellung.

Strafrechtsprofessor Daniel Jositsch ist gegen eine Verschärfung des Schweizer Jugendstrafrechts. Mit Kuscheljustiz hat sein Nein aber nichts zu tun.

Denn der sozialdemokratische Nationalrat fordert, dass Richter bei der Beurteilung von jugendlichen Gewalttätern das vorgesehene Strafmass gegen oben ausnützen.

swissinfo.ch: Die Täter haben in Müchen das wehrlos am Boden liegende Opfer weiter mit Schlägen und Fusstritten an den Kopf traktiert. Was sind die Gründe für diese Verrohung?

Daniel Jositsch: Sie sind in jedem Fall verschieden. Aber der Bericht des Bundesrates über jugendliche Intensivtäter von letzter Woche listet häufig zutreffende Grundstrukturen auf: Defizite in den schulischen, privaten und familiären Strukturen, Herkunft aus unteren sozialen Schichten, negatives persönliches Umfeld, Kontakt zu Drogen, allenfalls Konsum von Gewalt-Videos und –Spielen.

swissinfo.ch: Sie handelten unter Alkohol- und Cannabis-Einfluss. Sind bei Gewalttaten von Jugendlichen typischerweise Drogen im Spiel?

D.J.: Eindeutig, insbesondere Alkohol. Dieser enthemmt und lässt aufgestaute Aggressionen gegen aussen treten, auch bei Erwachsenen. Alkohol ist aber nicht Ursache von Gewaltexzessen, sondern wirkt als Katalysator, der solche Prozesse beschleunigt, indem er Hemmschwellen abbaut.

swissinfo.ch: Die drei jugendlichen Schläger sind “aktenkundig”, ohne dass die Schulbehörde davon wusste. Politikerinnen und Politiker fordern jetzt eine Meldepflicht der Justizbehörden gegenüber der Schule über Vorstrafen. Kritiker befürchten eine Stigmatisierung vorbestrafter Schüler. Welche Interessen sind höher zu gewichten?

D.J.: Diese Informationspflicht ist ausserordentlich wichtig. Eine Stigmatisierung ist für mich kein Problem, es geht ja nur darum, Ross und Reiter beim Namen zu nennen. Wenn ein Jugendlicher vorbestraft ist, muss er mit dieser Tatsache leben und umgehen, wie die Schule auch.

Die Information sollte aber nur bei schweren Gewaltdelikten und Sexualdelikten erfolgen, nicht bei Bagatell-Delikten.

Das heisst aber, dass die Schule auch die Mittel haben muss, zu reagieren. Die Verantwortlichen müssen entscheiden können, ob solche Jugendliche eine Reise mitmachen dürfen, ob sie in eine andere Klasse versetzt werden etc.

swissinfo.ch: Wodurch der schwierige Job der Lehrerschaft noch schwieriger wird.

D.J.: Selbstverständlich. Ein Jugendlicher, der wegen schwerer Gewaltdelikte verurteilt wurde, ist für Lehrer eine Belastung. Wenn diese die Information über die Verurteilung nicht haben, wird ihre Aufgabe nicht einfacher.

Angesichts der Schwierigkeiten, mit denen Lehrerinnen und Lehrer heute konfrontiert sind, dürfen Schulklassen nicht vergrössert, sondern sollten verkleinert werden.

Hat ein Lehrer 28 Schüler, kann er die Begabten nicht fördern, wenn in derselben Klasse schwierige Jugendliche Probleme bereiten. Daher ist es zynisch, wenn die Schweizerische Volkspartei einerseits der Schule die Verantwortung zuschieben will, aber andererseits aus Spargründen die Klassen vergrössern möchte.

swissinfo.ch: Der Begriff “Kuscheljustiz” hat nach solchen Vorkommnissen Hochkonjunktur. Strafen Schweizer Richter gewalttätige Jugendliche zu milde ab?

D.J.: Ja, es gibt eine generelle Tendenz. Ich habe im Nationalrat einen Vorstoss gemacht, der die Überprüfung verlangt, weshalb Richter bei sehr vielen Delikten den oberen Strafrahmen nicht ausnutzen. Übrigens auch nicht bei Delikten von Erwachsenen.

Erstaunlicherweise wurde er mit 177 gegen nur 2 Stimmen angenommen. Das Misstrauen reicht also von links bis rechts.

Man kann die milde Rechtsprechung als Verweigerung der Richter verstehen, den Willen des Gesetzgebers umzusetzen. Wenn die Richter den Spielraum nach oben nicht ausnützen, stösst die Gesetzgebung ins Leere. Das darf nicht sein.

swissinfo.ch: Es braucht also keine härteren und längeren Strafen?

D.J.: Nein. Diese bringen nichts, wenn Richter sich in der unteren Hälfte des bisher bestehenden Strafrahmens bewegen. Bei einzelnen Delikten kann man sich eine Erhöhung der Strafe überlegen, wie dies das Parlament bezüglich Vergewaltigungen macht.

swissinfo.ch: Wie kann die Gesellschaft präventiv gegen Gewaltexzesse Jugendlicher vorgehen?

D.J.: Zentral ist die Vernetzung der verschiedenen Bereiche Schule, Elternhaus, privates Umfeld, Vereine, allenfalls Jugendstrafverfolgungs- und Vormundschaftsbehörde.

Damit die verschiedenen Behörden proaktiv miteinander kommunizieren können, müssen bestimmte Bestimmungen des Datenschutzes gelockert werden. Es braucht zudem gesetzliche Instrumente, damit die Behörden frühzeitig eingreifen und nötigenfalls auch auf Eltern Einfluss nehmen können.

Als ehemaliger Schulpräsident in meiner Wohngemeinde weiss ich, dass Defizite bei Jugendlichen in der Schule früh festgestellt werden können. Häufig betreffen solche das Elternhaus, kombiniert mit dem Freizeitverhalten der Schüler. Dann muss man sich des Jugendlichen annehmen und das Defizit frühzeitig auffangen, allenfalls durch Massnahmen im anderen Bereich.

Heute schaut man zu lange zu. Bei Bagatell-Delikten will man nicht ‘mit Kanonen auf Spatzen schiessen’. Dann sind wir aber irgendwann mit Gewaltdelikten konfrontiert, und dann ist es zu spät.

Renat Künzi, swissinfo.ch

Laut einem Bericht des Bundesamtes für Polizei gibt es in der Schweiz rund 500 jugendliche Intensiv- und Mehrfachtäter. Meist handelt es sich um junge Männer mit Migrationshintergrund.

Die Täter, die sich häufig zu ethnisch gemischten Banden zusammenschliessen, sind gemäss der Befragung männlich, stammen in der Regel aus bildungsfernen Schichten mit Migrationshintergrund und leben bezüglich Familie, Schule, Arbeit und Drogenkonsum in problematischen Verhältnissen. Die meistgenannten Ethnien stammen vom Balkan und der Türkei.

Die Polizeikorps in der Romandie erwähnten zudem auch nordafrikanische Länder und vereinzelt andere Länder Afrikas.

Gemäss den Angaben der Kantone, die teils auf Zählungen, teils auf Schätzungen beruhen, scheinen Mädchengangs die Ausnahme zu sein.

Mehrheitlich unumstritten ist bei den Experten die qualitative Veränderung der Jugendkriminalität in den letzten Jahren. Vor allem die Brutalisierung bei Gewaltstraftaten und die Intensität der Delinquenz bei den Einzelnen hat sich laut Umfrage gesteigert.

SP-Politiker Daniel Jositsch hatte 2007 mit dem “12-Punkte-Plan zur Lösung von Jugendgewalt und Schulproblemen” Diskussionen ausgelöst. Das Programm hatte er zusammen mit Nationalrats- und Parteikollegin Chantal Galladé verfasst.

Darin stellten sie den Freiheitsentzug für unter 15-Jährige zur Debatte. Erzieherische Massnahmen sollen bis zum 25. Altersjahr (aktuell 22 Jahre) verhängt werden können.

Auch können Eltern zum Besuch von Erziehungs- und Sprachkursen gezwungen werden. Im Falle von unkooperativem Verhalten können sie mit bis zu 5000 Franken gebüsst werden.

Das Programm wurde von Exponenten der Sozialdemokratischen Partei als Tabubruch taxiert. Bisher waren Forderungen nach Verschärfung des Jugendstrafrechts meist von rechter Seite gekommen.

Im vergangenen März schickten die Genossen der Zürcher SP das Programm von Jositsch und Galladé klar bachab.

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