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“Sie wollte, dass man ihre Geschichte erzählt”

"Es ist Mord, was die da tun", sagte die geschiedene Ehefrau des zum Tode verurteilten Delma Banks 2003. Inzwischen hat der Oberste US-Gerichtshof das 1980 gefällte Urteil aufgehoben. Bis heute ist lediglich ein neues Verfahren angekündigt worden. Banks sitzt immer noch in der Todeszelle. Fabian Biasio

Auch Angehörige von zum Tod Verurteilten können zu Opfern werden, wie ein Schweizer Fotojournalist erlebt hat. Anlässlich des Welttages gegen die Todesstrafe erinnert er sich an die Reportage, die ihn 2003 in die Hauptstadt der Exekutionen im US-Bundesstaat Texas führte.

“Ich wollte eine Geschichte erzählen über die Todesstrafe”, erklärt der Fotojournalist Fabian Biasio seine Motivation, im Jahr 2003 nach Texas zu reisen.

Er merkte bald, dass die Texaner nicht auf ihn gewartet hatten. “Ich erhielt weder Zugang zur Hinrichtungsstätte, noch zum Todestrakt”, sagt Biasio.

“Huntsville ist die Hauptstadt des texanischen Strafvollzugs. Jede Exekution in diesem US-Bundesstaat wird in Huntsville vollstreckt.”

Nachdem er auf die Besuchsliste eines Strafgefangenen aufgenommen worden war, konnte er sich wenigstens den Besucherraum des Todestrakts anschauen.

Dabei lernte er Tina Morris, kennen, die Schwester vom James Colburn. “Tina sass neben mir, sie besuchte ihren Bruder. Einen Tag vor seinem ersten Exekutionstermin, der dann aber verschoben wurde.”

Zweite Opferfamilie

Er sah in Tina die Möglichkeit, eine spezielle Geschichte zu erzählen: Die Tatsache, dass eine Exekution eine zweite Opferfamilie produziert, die Familie des Täters.

“Der Täter hat der Opferfamilie grosses Leid verursacht, und jetzt verursacht der Staat bei der Familie des Täters grosses Leid”, erklärt Fabian Biasio.

Seine Geschichte nannte er “Tagebuch einer Exekution”. Die Fotos zeigen Tina Morris in der Woche vor der Exekution ihres Bruders James. “Ich war nicht nur Fotograf, sondern auch ihr Begleiter und Chauffeur.”

Ihre Familie sei ihr in dieser Woche zwar wichtig gewesen, aber bei ihren letzten Besuchen im Todestrakt sei es ihr jeweils so schlecht gegangen, dass sie niemanden von ihrer Familie um sich haben wollte.

“Das war ihr zu nah. Ich glaube, sie wollte nicht, dass ihre Söhne oder ihr Lebenspartner sie so sehen. Bei mir war ihr das egal.”

“Tina, ich werde Dich auch fotografieren, wenn es Dir ganz schlecht geht, wenn Du weinst”, habe er sie vorgewarnt. Sie sei damit einverstanden gewesen. “Sie wollte, dass man ihre Geschichte erzählt.”

“Beim zweiten Mal war er tot”

James Colburn war schizophren. “James hat auch aufgrund seines Krankheitsbildes einen Mord begangen. Er hat eine Frau mit einem Küchenmesser erstochen”, sagt Biasio, der Tinas Bruder nur zwei Mal getroffen hat.

“Ich habe rund eine halbe Minute mit ihm telefoniert. Das Gespräch war sehr kurz, weil es verboten ist, mit Häftlingen zu sprechen, von denen man nicht eingeladen ist. Beim zweiten Kontakt war James tot.”

Sobald jemand in den Todestrakt komme, sei er hinter Panzerglas weggeschlossen, auch von seinen Angehörigen. “Die erste physische Berührung findet nach der Exekution statt. Es gibt keine letzte Umarmung, keinen Händedruck.”

Weshalb ticken die USA anders?

In den Vereinigten Staaten ist es laut Biasio sehr unpopulär, sich gegen die Todesstrafe zu engagieren. Auch bei Barack Obama sei es kein Thema. “Es würde ihn viele Stimmen kosten. Position gegen die Todesstrafe beziehen nur kleine Menschenrechtsgrüppchen.”

Wieso ist die Todesstrafe in den USA nicht so geächtet wie in Europa, wo nur noch Weissrussland die Todesstrafe kennt? “Ich glaube, das sind vielfach stark religiöse Gründe: Auge um Auge, Zahn um Zahn, alttestamentarische Ansichten, die tief in der US-Volksseele verankert sind”, sagt der Fotograf.

Delegiertes Töten

Für Biasio sind die staatlich durchgeführten Exekutionen ein delegiertes Töten. “Zum Schluss vollstrecken das Urteil zwei anonyme Henker, die in einem abgedunkelten Nebenraum je einen Knopf drücken. Der eine Knopf setzt den Mechanismus in Gang, der die Giftspritze auslöst. Der zweite Knopf ist nicht angeschlossen.”

Der Fotograf anerkennt die Strafe als Massnahme, die eine Gesellschaft überhaupt erst zum Funktionieren bringe. “Aber dabei geht oft vergessen, dass jeder Mensch die Möglichkeit haben sollte, sich zu bessern.”

Bleibende Erinnerungen

“Ich habe damals gelernt, dass psychische Qualen auch körperliche Schmerzen verursachen können”, erinnert sich der Fotograf an seinen Texasaufenthalt 2003. “Noch nie habe ich jemanden so leiden sehen wie Tina in dieser Woche. Das hat mich persönlich sehr getroffen.”

Anlässlich der Ausstellung seiner Fotos in Winterthur hat er Tina wieder getroffen – ein Jahr nach der Exekution ihres Bruders. Sie habe sich in der Galerie die Bilder, ihre Geschichte angeschaut. “Das war ein unglaublich intensiver Moment.”

Biasio hat “Leben und Sterben in Huntsville, Texas” auch in einer Diaschau für das Internet verarbeitet. “Tina schaut sie jeden Tag an. Die Exekution ist Teil ihrer Geschichte. Sie muss mit diesem Trauma leben.”

Verrohung der Gesellschaft

Untersuchungen zeigen, dass sich die psychische Verfassung der Angehörigen von Mordopfern nicht wirklich bessert, nachdem die Täter hingerichtet worden sind.

In den USA hat sich deshalb ein Verein von Hinterbliebenen von Mordopfern gebildet, die sich gegen die Todesstrafe aussprechen.

“Meiner Ansicht nach führt es zu einer Verrohung der Gesellschaft, wenn der Staat sein Gewaltmonopol in dieser Brutalität ausübt”, sagt Biasio.

Unermessliches Leid

“Tief in meinem Innersten weiss ich, dass die Todesstrafe falsch ist. Als 2010 in der Schweiz über die Wiedereinführung der Todesstrafe gesprochen wurde, habe ich gedacht, hoffentlich geht das gut. Denn sollte mal etwas Schlimmes passieren, dann kriegt man in der Schweiz eine Mehrheit für die Todesstrafe.”

Er habe in Texas gesehen, dass die Todesstrafe unermessliches Leid bereite. “Ich bin um jede Gesellschaft froh, die diese Verantwortung trägt und sagt: Nein, das wollen wir hier nicht.”

Die Internationale Kommission gegen die Todesstrafe verlegt ihren Sitz von Madrid nach Genf. Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey begrüsste den Umzug und sicherte der Kommission am Montag die personelle Unterstützung der Schweiz zu.

Calmy-Rey nahm an der Eröffnung der 4. Versammlung der Kommission teil. Das Gremium setzt sich aus hochrangigen Persönlichkeiten aus verschiedenen Ländern zusammen und steht unter dem Vorsitz des Spaniers Federico Mayor Zaragoza.

Eines der 12 Mitglieder der Kommission ist alt Bundesrätin Ruth Dreifuss. Sie erklärte, die Präsenz der Kommission in Genf unterstreiche das Engagement der Schweiz für die weltweite Abschaffung der Todesstrafe.

Geboren 1975 in Zürich. Der Fotograf lebt und arbeitet in Luzern.

Kunden: Das Magazin, Tages-Anzeiger, Beobachter, Schweizer Radio DRS, Schweizer Fernsehen SF, Die Zeit, Spiegel, Die Gestalter (St. Gallen) Wirz Corporate (Zürich), NZZ libro (Zürich), Stiftung Brändi (Luzern) etc.

139 (70%) aller Staaten haben die Todesstrafe aus ihren Strafgesetzen gestrichen oder wenden sie in der Praxis nicht mehr an (Stand März 2011).

 

96 Staaten haben die Todesstrafe vollständig abgeschafft.

 

9 Staaten sehen die Todesstrafe nur noch für Straftaten wie Kriegsverbrechen oder Vergehen nach Militärrecht vor.

 

34 Staaten haben die Todesstrafe in der Praxis, aber nicht im Gesetz abgeschafft.

58 Staaten halten weiterhin an der Todesstrafe fest.

Nur ein Drittel der Weltbevölkerung lebt in Staaten, die nicht hinrichten.

Häufigste Hinrichtungsmethoden:

Tod durch Enthaupten (Saudi-Arabien)
Tod durch den elektrischen Stuhl (USA)
Tod durch Erhängen (Ägypten, Iran, Irak, Japan, Pakistan, Singapur und andere Länder)
Tod durch die Giftspritze (China und USA)
Tod durch Erschiessen (China, Weissrussland, Vietnam und andere Länder)
Tod durch Steinigung (Afghanistan, Iran)

Jugendliche:

Internationale Menschenrechtsverträge verbieten es, Minderjährige zum Tode zu verurteilen.

Seit 1990 haben China, Iran, Jemen, Nigeria, DR Kongo, Pakistan, Saudi-Arabien, Sudan und die USA 83 zur Tatzeit Minderjährige exekutiert, davon 19 in den USA, 47 in Iran.

2009 henkten Iran fünf und Saudi-Arabien zwei Jugendliche. 2010 wurde nur eine solche Hinrichtung aus Iran bekannt.

Jemen, Pakistan und die USA haben diese Praxis inzwischen für ungesetzlich erklärt.

(Quelle: Amnesty International)

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