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“Wolfabschüsse wären ein Eigentor”

Oliver Hess mit einem seiner Herdenschutzhunde. Keystone

Die Aufhebung des Jagdbanns für den Wolf käme die öffentliche Hand viel teurer zu stehen als wirksame Schutzmassnahmen, sagt Herdenschutz-Experte Oliver Hess. Dank seinem Konzept riss der Wolf im Entlebuch 2010 erst ein Schaf, nach 38 im letzten Jahr.

Der Alpsommer im Luzernischen hat gezeigt: Die Herdenschutzhunde, die Oliver Hess in Rothenburg ausbildet, lassen dem Wolf keine Chance.

Die Vision des 39-jährigen Landwirts und Familienvaters reicht aber bis ins Wallis und nach Graubünden. Statt zum Halali auf den Wolf zu blasen, wie dies der Nationalrat am Donnerstag tat, plädiert Hess für einen runden Tisch, an dem Vertreter von Behörden, Herdenschutz und Umweltverbänden vor allem eines tun müssten: Die Tierhalter professionell unterstützen.

Der Herdenschutz-Verantwortliche plädiert deshalb für mehr Mittel. Nicht nur für die Zentralschweiz, für die er verantwortlicher Herdenschützer ist, sondern für die ganze Schweiz.

swissinfo.ch: Der Nationalrat hat am Donnerstag zwei Stunden über den Wolf debattiert und das Jagdverbot aufgehoben. Ihr Kommentar?

Oliver Hess: Das Resultat ist in meiner Denkweise ein wenig erschreckend. Sollten wir tatsächlich aus der Berner Konvention aussteigen, den Schutzstatus des Wolfs herabstufen und ihn erschiessen, wählen wir den teureren Weg als mit dem Herdenschutz. Der Abschuss eines einzigen Wolfes rechnete der Kanton Wallis 2008 mit über 200’000 Franken ab. Zudem würde die Schweiz mit grosser Wahrscheinlichkeit international sehr stark kritisiert.

Das Problem würde langfristig und nachhaltig nicht gelöst. Angesichts der Wolfsbestände in Italien und Frankreich ist klar, dass sie kommen werden. Wir können noch so lange auf sie schiessen, aber wir werden sie nicht eliminieren können. Deshalb ist das ein dummer Weg.

swissinfo.ch: Es gibt Stimmen, die Berner Konvention, die den Schutz des Wolfes garantiert, sei so gut wie tot, weil die EU bereits viel strengere und wirksamere Bestimmungen hat.

O.H.: Die Gerichtshöfe würden uns sicher beim Wort nehmen. Würde der Abschuss von Wölfen erleichtert – sogar Hirten sollen auf sie schiessen dürfen – würde der Druck aus dem Ausland deutlich erhöht. Schon jetzt müssen wir uns jeweils in Brüssel rechtfertigen, wenn ein Wolf geschossen wird.

Aus gesicherter Quelle weiss ich, dass der Druck aus Brüssel da sehr hoch werden wird. Der Weg, wie er jetzt beschritten wird, könnte ein Eigentor werden.

Die Schizophrenie an der ganzen Geschichte: Wir können Wölfe nur schiessen, wenn wir beweisen konnten, dass der Herdenschutz versagt hatte. Dieser aber wird schmal gehalten, und das wiederum ergab die Legitimation, die Wölfe zum Abschuss freizugeben.

swissinfo.ch: Mit den Hunden aus ihrem Herdenschutzzentrum konnten Sie in der Zentralschweiz diesem Sommer beweisen, dass Herdenschutz funktionieren kann. Wieso soll dies in Graubünden und im Wallis nicht möglich sein, wie die Vertreter dieser Kantone im Parlament sagten?

O.H.: Ich habe in diesem Jahr auf eigene Verantwortung und mit 40’000 Franken aus der eigenen Tasche bewiesen, dass Herdenschutz sehr erfolgreich sein kann. Weil die öffentlichen Beiträge nicht reichen, um diesen Job erfolgreich weiterzuführen, habe ich aber vor einem Monat meinen Rücktritt angedroht.

Um weiter erfolgreich sein zu können, müsste der Herdenschutz weiter professionalisiert werden. Eine bessere Ausbildung der Hunde bedingt aber mehr Mittel. Für die Zentralschweiz, für die ich zuständig bin, fehlen momentan rund 80’000 Franken, für die ganze Schweiz 1 bis 1,5 Mio. Franken. Je nach Zunahme des Wolfsbestandes wären zwei bis 2,8 Mio. Franken nötig, um einen seriösen Herdenschutz in der ganzen Schweiz betreiben zu können.

Die Abschüsse von zehn Wölfen würden locker das Herdenschutzbudget ergeben. Will man sie ausrotten, bräuchte es deutlich mehr als zehn Abschüsse.

Die Sömmerungsstrukturen sind unterschiedlich. Die Zentralschweiz weist sogar eine anspruchsvollere Sömmerungsstruktur auf als das Wallis. Die Zentralschweiz kennt keine ständige Behirtung, unsere Hunde müssen ihre Arbeit mehr oder weniger autonom erledigen. Obwohl die Kontrolle viel aufwendiger ist, haben wir mit dem Herdenschutz Erfolg.

swissinfo.ch: Weshalb der laute Ruf nach der Lizenz zum Wolfsabschuss des Wallis?

Wirksamer Herdenschutz wäre problemlos auch im Wallis und in Graubünden zu realisieren. Nur haben es die einzelnen Parteien in den zehn Jahren Geschichte des Herdenschutzes nicht geschafft, die Thematik miteinander zu lösen. Der Herdenschutz, die Landwirtschaft, die Umweltverbände – alle haben Fehler gemacht. Die Fronten sind dermassen verhärtet, dass man im Wallis bei Null beginnen müsste, um dem Herdenschutz zum Erfolg zu verhelfen.

Der zusätzliche Aufwand wurde stets den Berglandwirten aufgebürdet, also just jenen, welche die Schäden tragen. Ich gehe vom Grundsatz aus, dass wir für sie alles tun müssen, damit sie die Sömmerung auf der Alp so durchführen können, wie sie dies vor der Rückkehr des Wolfes getan haben.

In der Zentralschweiz können sich Berglandwirte mittlerweile mit dem Wolf arrangieren. Ich habe sogar schon die Äusserung gehört, sie verstünden die ganzen Diskussionen um den Wolf nicht mehr. Zudem hätten wir eine viel grössere Akzeptanz im Umgang mit Grossraubtieren.

swissinfo.ch: Wie müsste ein Neubeginn aussehen, abgesehen von den zusätzlichen Mitteln?

O.H.: Behörden, aber auch Herdenschutz und Umweltverbände, müssen jegliche, aber auch wirklich jegliche Forderungen erfüllen, welche die Landwirte betreffend Grossraubtiere haben können.

Ich höre stets, auch von Seiten des Herdenschutzes, dass sich die Berglandwirte anpassen müssten. Falsch! Wir müssen ihnen im ersten Herdenschutzjahr ermöglichen, dass sie ihre Tiere normal weitersömmern können. Im Kanton Luzern halfen wir Weiden einzäunen, die Hunde zu integrieren, die Schafe zu kontrollieren und selbst kranke Tiere zu pflegen.

Was passiert? Wenn der Landwirt sieht, dass die Hilfe nicht nur ernst gemeint ist, sondern diese auch nützt, kommt der Stolz des Landwirtes ins Spiel. Im zweiten Jahr will er sich nicht mehr helfen lassen, sondern er übernimmt die zusätzlichen Aufgaben selbst, und das Problem ist gelöst.

Vielleicht fragen uns unsere Grosskinder dereinst, warum wir die landwirtschaftliche Nutzflächen in den Bergen so einfach hergegeben haben? Nicht der Wolf ist das Problem. Vielmehr nehmen wir das Phänomen der Abwanderung aus den Bergtälern einfach hin.

Mit welchen Folgen für die Menschen zwei Generation nach uns? Da setze ich zwei grosse Fragezeichen. Ironischerweise beschleunigt der Wolf diese Abwanderung gar, weil die Berglandwirte direkt betroffen sind.

Bevor der gelernte Offsetdrucker und Landwirt sich professionell um den Herdenschutz kümmerte, war Hess mehrere Sommer als Hirte auf Alpen tätig.

Darunter drei Sommer auf der Alpe Pontinia im Kanton Wallis, wo Ende 1999/Anfang 2000 die erste Wölfin auftauchte (“Pontinia Mary”).

Seit 2009 hat Hess ein Mandat des Bundes als Herdenschutz-Experte für die Region Zentralschweiz. Seine genaue Bezeichnung ist “Herdenschutz-Experte im Auftrag der Koordinationsstelle Schweizer Herdenschutz Agridea”.

Seit 2009, als in der Zentralschweiz der erste Wolf auftauchte, leitet Hess das Herdenschutzzentrum Rothenburg im Kanton Luzern. Dort bildet er 23 Herdenschutzhunde auf ihren Einsatz als Herdenschutzhunde aus.

Hess stellt die Hunde den Berglandwirten zur Sömmerung zur Verfügung. Den Winter verbringen sie wieder bei Hess.

Der Erfolg spricht klar für sein Konzept: Hatte der Wolf im letzten Jahr im Entlebuch noch 38 Schafe gerissen, musste in diesem Jahr ein einziges Schaf dran glauben.

Weil er die professionellen Strukturen aber mit 40’000 Franken aus eigenem Sack finanzierte, hat Hess als Herdenschutzexperte der Region Zentralschweiz den Rücktritt angedroht.

Gesamtschweizerisch unterstützt 2010 der Bund den Herdenschutz mit 830’000 Franken.

Im September 1995 wird in der Schweiz das erste Mal die Anwesenheit von Wölfen nachgewiesen. Die zwei männlichen Tiere stammten aus Italien und hatten im Juli etwa 70 Schafe getötet.

Seit 1998 tritt der Wolf regelmässig in der Schweiz auf. Er wandert aus Italien ein ins Wallis, Tessin und den Kanton Graubünden.

November 2008 wurde ein Wolf im Münstertal im Kanton Graubünden entdeckt. In jenem Jahr identifizierten die Behörden in der Schweiz rund 15 Tiere.

In einer Umfrage vom Dezember 2008 sprechen sich 80% der Bevölkerung in der Schweiz für eine Rückkehr des Wolfes aus.

2009: Wölfe haben in der Schweiz mehr als 100 Schafe und zwei Ziegen angegriffen.

Juli 2010: Drei Rinder werden in Crans-Montana (Wallis) angegriffen.

6. August 2010: der Walliser Staatsrat stellt eine auf 60 Tage befristete Genehmigung für den Abschuss dieses Wolfes aus.

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