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10 Jahre EWR-Nein: Die Schweiz gibt es noch

Europa von der Schweiz aus gesehen. Keystone

Am 6. Dezember 1992 lehnte die Schweiz einen Beitritt zum EWR ab. Damit wurde vorerst die Tür zu einer engeren Zusammenarbeit mit der EU zugeschlagen.

Die Schweiz musste nun ihr Verhältnis zur EU mit bilateralen Verträgen regeln.

Der Abstimmungskampf um den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) war unversöhnlich und emotionsgeladen geführt worden. Auf Seiten der Befürworter hiess es, ein Nein bedeute das Ende der Schweiz. Die Gegner sagten, nur mit einem Nein könne die Schweiz überleben.

Dass sich vor allem die Gegner in der Deutschschweiz gegen die europafreundlichen Romands durchsetzten, hat seitdem Schule gemacht. Die Schweiz ist politisch oft an den Sprachgrenzen gespalten.

Österreich top, Schweiz Flop

Der 6.12.92 hat die Schweiz wirtschaftlich zurückgeworfen. Die zehn Jahre seit dem EWR-Nein haben der Schweiz das schwächste Wirtschaftswachstum Westeuropas gebracht – von 1992 bis 2001 nur 1,1%.

Ein Vergleich mit unserem etwa gleich grossen und in vielen Bereichen ähnlich strukturierten Nachbarland Österreich, der 1992 Ja zum EWR sagte und 1995 der EU beigetreten ist, spricht Bände.

Das Pro-Kopf-Einkommen Österreichs stieg in den 90er Jahren um 16%, während sich die Schweiz in der gleichen Zeit im Rückwärtsgang bewegte, wenn auch auf höherem Niveau.

Im Aussenhandel lag Österreich vor 15 Jahren noch hinter der Schweiz, 1999 bereits 6% voraus. Und die Arbeitslosigkeit lag Mitte der 90er Jahre im Nachbarland tiefer als bei uns.

Durch den EWR-Beitritt sei Österreich unter starken Wettbewerbsdruck gekommen und habe seine schwachen Wirtschaftsstrukturen richtig ausmisten müssen, sagt Franz Jäger, Wirtschaftsprofessor an der Universität St. Gallen. Nach einer Durststrecke habe es dann aber einen riesigen Produktionsschub gegeben.

Überteuerte Schweiz

Mit einem EWR-Nein hätte die Schweiz diese Chance vertan. Zwar sei die Exportindustrie fitgetrimmt, die Binnenwirtschaft dagegen fühle sich wie ein riesiger Bleifuss an, meint Franz Jäger. Deshalb sei unser Land auch dermassen überteuert.

Die Brutto-Mieten beispielsweise sind nirgends in Europa so hoch wie in der Schweiz. Schuld daran sind laut Ökonomen die hohen Bodenpreise, obschon sich die Realzinsen in Europa angleichen würden.

Andere Sichten

Das EWR-Nein habe der Schweiz aus heutiger Sicht keine direkten wirtschaftlichen Nachteile gebracht, sagt Serge Gaillard, Ökonom und Sekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB).

Mit den im Juni in Kraft getretenen bilateralen Verträgen mit der EU habe sich die Schweiz den diskriminierungsfreien Zugang zu den europäischen Märkten gesichert, womit das wichtigste Handicap aus dem EWR-Nein beseitigt sei, so Gaillard.

Die negative Entwicklung des Wirtschaftswachstums und die hohen Arbeitslosenraten der 90er Jahre werden weniger dem EWR-Nein als vielmehr der restriktiven Geldpolitik der Schweizerischen Nationalbank (SNB) und der zurückhaltenden Haushaltspolitik von Bund, Kantonen und Gemeinden zugeschrieben.

Andere Ökonomen wiederum sagen, dass die Schweiz durch ihre selbst gewollte Aussenseiterposition zehn Jahre vertan hat und auch heute noch nicht mit am Tisch der Entscheidungen sitzt.

Bernd Schips, Leiter der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich, meint, wenn die Schweiz dem EWR beigetreten wäre, hätte die Liberalisierung weiter fortschreiten können. “Der wirtschaftliche Integrationsprozess ist ein Reformmotor, sowohl für Europa als auch für die Schweiz.”

Nicht alles dem EWR-Nein anlasten

Allerdings dürfe man nicht alle wirtschaftlichen Flops der letzten Jahre in der Schweiz dem EWR-Fernbleiben anlasten. Die Swissair zum Beispiel wäre auch abgestürzt, wenn die Schweiz EWR-Mitglied geworden wäre, meinen sowohl Schips wie auch Gaillard. Die Swissair hätte einfach “zu hoch hinaus” gewollt.

Viele der einstigen EWR-Befürworter in der Wirtschaft hätten inzwischen ihre Glaubwürdigkeit verloren, sagt Matthias Kummer, der als Direktor der damaligen Gesellschaft zur Förderung der Schweizer Wirtschaft (wf) für die Ja-Kampagne verantwortlich war.

“Ich denke dabei an die Protagonisten bei der Swissair, die inzwischen ganz verschwunden ist, oder beim schwer angeschlagenen ABB-Konzern”, erklärt Kummer.

Langsamer und schwieriger Weg

Nun verhandelt die Schweiz über eine zweite Runde bilateraler Verträge mit der EU. Und wieder muss sie sich fügen beziehungsweise etwa ihr Bankgeheimnis auf den Prüfstand stellen lassen, um gleichberechtigter Partner zu werden.

Aussenminister Joseph Deiss gibt denn auch zu, dass die Schweiz mit ihrer Ablehnung 1992 “einen langsamen und schwierigen Weg” gewählt hat. “Der Beitritt zum EWR hätte die Schweiz zu wichtigen Liberalisierungsschritten veranlasst. Stattdessen ist sie im Vergleich zu ihren Partnerländern in Rückstand geraten”, so Bundesrat Deiss in einem Interview mit der “NZZ am Sonntag”.

swissinfo, Jean-Michel Berthoud

EWR-Abstimmung:
50,3% Nein gegen 49,7% Ja (23’105 Stimmen Unterschied)
14 ganze und 4 halbe Kantone dagegen, 6 ganze (alle welschen) und 2 halbe (BS und BL) Kantone dafür
Mit 78,7% zweithöchste Stimmbeteiligung der Nachkriegszeit

Der Vertrag über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) wurde am 2.5.1992 von den zwölf Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) und der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) unterzeichnet. Ausser der Schweiz waren noch sechs Länder Mitglieder der EFTA: Österreich, Island, Liechtenstein, Schweden, Norwegen und Finnland. Drei von ihnen sind seither der EU beigetreten (Österreich, Schweden und Finnland).

Der EWR ist ein auf Gegenseitigkeit beruhendes Abkommen über Freihandel und Zusammenarbeit zwischen den Unterzeichnerstaaten. Er führt die vier Freiheiten ein, welche auch die Grundlage der EU sind: Freier Verkehr von Gütern und Dienstleistungen, freier Kapitalverkehr und Personenfreizügigkeit. Der Wirtschafts- und Währungsunion der EU gehören die EWR-Mitgliedsländer aber nicht an.

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