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Agrarfreihandel ist nächste bilaterale Grossbaustelle

Agrarfreihandel als Mittel gegen Hochpreisinsel Schweiz. Keystone

Anfang November starten die Verhandlungen über den Agrarfreihandel zwischen der Schweiz und der EU. Das ehrgeizige bilaterale Projekt soll die Lebensmittelpreise senken und den Bauern den EU-Markt öffnen.

Bundesrätin Doris Leuthard wird am 4. November in Brüssel die EU-Agrarkommissarin Mariann Fischer Boel treffen und die Verhandlungen über den Agrarfreihandel mit der Europäischen Union (EU) auf politischer Ebene eröffnen. Dies wird der Auftakt zu einem Verhandlungsmarathon sein, der gemäss schweizerischer Planung bis 2010 dauern könnte.

Rechnet man danach eine Volksabstimmung in der Schweiz sowie die Übergangsfristen ein, wäre der Agrarhandel mit der EU frühestens 2016 vollständig zollfrei.

Es handelt sich um das ehrgeizigste bilaterale Projekt seit der Aushandlung der Bilateralen II: Der Agrarfreihandel soll, dies ist der Anspruch des Bundesrats, einen wesentlichen Beitrag zur Schleifung der Hochpreisinsel Schweiz leisten.

2005 lag das Preisniveau in der Schweiz um gut einen Drittel über dem EU-Durchschnitt. Bei den Agrarpreisen war der Abstand noch deutlicher. Verglichen mit dem umliegenden Ausland erhielten Schweizer Bauern durchschnittlich 46% mehr für ihre Produkte, Schweizer Konsumenten zahlten 39% mehr für Lebensmittel.

Theoretisch müsste der Agrarfreihandel zu einem Absinken der Lebensmittelpreise auf EU-Niveau führen. Doch so gut für die Konsumenten beziehungsweise so schlecht für die Bauern wird es in der Praxis nicht kommen. Die Bundesverwaltung prognostiziert aufgrund von Modellrechnungen, dass mit dem Agrarfreihandel “die Konsumentenpreise um bis zu 25% fallen”. Das tönt gut, ist aber eine bemerkenswert vage Aussage.

Schwankende Agrarpreise erschweren Prognosen

“Die Streubreite der erwarteten Preissenkungen beträgt je nach Produkt zwischen 5 und 25%”, schätzt der stellvertretende Direktor des Bundesamtes für Landwirtschaft (BLW), Jacques Chavaz. Genauer will sich Chavaz, der einer der Unterhändler in den bilateralen Verhandlungen sein wird, nicht festlegen.

Tatsächlich sind Prognosen schwierig, weil die Agrarpreise weltweit und in der EU in letzter Zeit stark schwanken. Ein verblüffendes Resultat ergab im letzten Frühling eine Stichprobe der Basler Zeitung: Sie liess ihre Auslandkorrespondenten je einen Liter Milch kaufen – und stellte fest, dass die Milch in den meisten europäischen Hauptstädten teurer war als in Basel.

Kurzfristig könne es durchaus sein, dass der heutige abgeschottete Schweizer Markt langsamer auf internationale Preiserhöhungen reagiere als der EU-Markt, kommentiert Chavaz dieses überraschende Ergebnis. “Auf längere Sicht wird das Preisniveau der Schweiz ohne Freihandel aber zwangsläufig über jenem der EU liegen, weil vor allem die Zölle die importierten Lebensmittel verteuern”, sagt Chavaz.

Käsehandel als erfolgreicher Testfall

Für die Schweizer Bauern wird der Abbau des Grenzschutzes gegenüber der EU denn auch tiefere Einnahmen im Inland bedeuten. Umgekehrt würde der Freihandel ihnen und der schweizerischen Lebensmittelindustrie aber auch den EU-Binnenmarkt mit 500 Millionen Konsumenten öffnen.

Für die Bundesverwaltung ist der Käsehandel mit der EU, der aufgrund des bestehenden bilateralen Agrarabkommens seit Juni 2007 voll liberalisiert ist, der erfolgreiche Testfall: 2005-2007 ist der Schweizer Käseexport in die EU jährlich um durchschnittlich 7% gewachsen.

Ob die Schweizer Landwirtschaft sich unter Freihandelsbedingungen behaupten könnte, hängt letztlich davon ab, ob die schweizerischen und europäischen Konsumenten bereit sind, für Schweizer Qualitätsprodukte einen Aufpreis zu bezahlen.

Die erste Voraussetzung sind Deklarationsvorschriften, die Schweizer Produkte als solche sichtbar machen. “Dies wird ein wichtiges Verhandlungsthema sein”, sagt Chavaz.

Weiterhin Direktzahlungen für Bauern

Den Schweizer Bauern verheisst das BLW zudem Kostensenkungen im Umfang von rund einer Milliarde Franken jährlich, weil auch ihre Produktionsmittel dem Freihandel unterstellt werden sollen. Dies zumindest strebt die Schweiz in den Verhandlungen mit der EU an. Allerdings würden zum Beispiel Ersparnisse der Tierhalter durch den zollfreien Import von Futtermitteln teilweise auf Kosten der Schweizer Futterproduzenten gehen.

Kein Thema ist in den Verhandlungen eine Übernahme der EU-Agrarpolitik. Die Schweiz wird ihre Bauern weiterhin mit Direktzahlungen subventionieren dürfen, die sehr viel grosszügiger sind als jene der EU. Eine rein innenpolitische Angelegenheit ist auch, mit wie viel Geld der Bund die Einkommensverluste der Bauern in der Umstellungsphase abfedert.

swissinfo, Simon Thönen, Brüssel

Die Chance der Schweizer Bauern, ihre Produkte mit einem “Swissness”-Bonus zu vermarkten, hängt stark von den Deklarationsvorschriften ab.

In der Schweiz sind einheimische Lebensmittel gegenwärtig einfach zu erkennen, weil die Deklaration des Produktionslandes vorgeschrieben ist. In der EU hingegen muss das Herkunftsland nur bei Rindfleisch, frischem Obst und Gemüse sowie Eiern angeben werden.

An der obligatorischen Herkunftsdeklaration wolle man festhalten, hatte Wirtschaftsministerin Doris Leuthard nach der Verabschiedung des Verhandlungsmandats durch den Bundesrat beteuert.

Gute Chancen im EU-Markt haben grundsätzlich regionale Spezialitäten – falls sie entsprechend deklariert sind.

Seit einem Jahr verhandeln Bern und Brüssel über die gegenseitige Anerkennung von geschützten Ursprungsbezeichnungen wie zum Beispiel AOC.

Der stellvertretende Direktor des Bundesamtes für Landwirtschaft, Jacques Chavaz, zeigte sich auf Anfrage zuversichtlich, dass man “in den nächsten Monaten” eine Einigung mit Brüssel erzielen wird.

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