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Alain Tanner ist 75

Keystone

Der Schweizer Filmemacher Alain Tanner feierte am 6.12. seinen 75. Geburtstag. Dieses Jahr drehte er seinen letzten Film – den wirklich letzten, wie er sagt.

Der Leiter der Cinémathèque suisse, Hervé Dumont, und der Regisseur Jean-Stéphane Bron gratulieren.

“Es ist ein unerträglicher Beruf geworden!”, findet Alain Tanner. Er, den Hervé Dumont beschreibt als einen “der zwei oder drei weltweit bekanntesten Schweizer Filmemacher”, hat die Kamera nach “Paul s’en va”, seinem letzten Spielfilm, niedergelegt.

“Ich filme noch immer gerne”, erklärt Tanner gegenüber swissinfo. Aber ganz unerträglich geworden sei alles, was vor- und nachher komme: Finanzierung und Vertrieb. “Ich mag keine Zeit mehr damit verlieren. Wenn man mir sagte, du bekommst genug Geld, um morgen einen Film zu drehen, dann täte ich das. Aber leider sieht die Wirklichkeit anders aus.”

Und der Genfer hat “ohne Bitterkeit und Bedauern”, zufrieden mit seinem Weg, die Kamera durch die Feder ersetzt. Er schreibt ein Buch, das nächstes Jahr herauskommen soll. “Ich versuche, den Sinn zu finden in all dem, was ich gemacht habe, und das in die Theorie umzusetzen”, verrät der Filmemacher.

Gräben und Rebellion

Mit “Le milieu du monde”, “La Salamandre”, “Les années lumière”, “Jonas qui aura 25 ans en l’an 2000” und anderen – insgesamt waren es 21 Spiel- und 40 Dokumentarfilme – hat Tanner nicht nur dem Schweizer Film seinen Stempel aufgedrückt.

Er war, mit Michel Soutter und Claude Goretta, einer der drei Grossen des “neuen Schweizer Films” in den 1970er-Jahren.

Tanners Filme waren die eines Intellektuellen, rebellisch in der Form (schwarz-weiss, leichte Kamera, keine Studioaufnahmen), sozial engagiert und grundsätzlich politisch.

“Seine Filme zeigten Gräben und Rebellion auf”, erklärt der Leiter der Cinémathèque suisse. “In den letzten sechs oder sieben Jahren hat er sich ein wenig hinter seinen grossen sozialen Träumereien verschanzt. Unverblümt, ohne Angst, zu schockieren, hat er auch seine Phantasien verfilmt.”

Dumont weiter: “Bis zuletzt blieb Tanner mit seinen Themen mutig und experimentierfreudig. Er ist ein freier Filmemacher, mit all den Gefahren, die das mit sich bringen kann. Aber er ist frei!”

Keine Nachfolge

Seine Unabhängigkeit konnte sich Tanner dank einigen Erfolgen aufbauen und indem er seine Filme von A bis Z, von der Produktion bis zu den Rechten, selbst bearbeitete. Vor allem wegen dieser Eigenschaft denkt Dumont, dass Tanner im heutigen jungen Schweizer Film keine Nachfolger hat.

Was dieser nicht bestreitet, ganz im Gegenteil. “Ich sehe nirgends irgendeine Art von Nachfolge. Es gibt zur Zeit nicht wenige junge Filmemacher, die ich als die junge Rechte des Films bezeichnen möchte, für die ich ein wenig der Feind bin, den es zu schlagen gilt. Aber sie müssen mich gar nicht schlagen, ich höre ja auf. Jetzt können sie die Fackel übernehmen, wenn es eine gibt …”

Tanner ist angesichts eines “für die Werbung formatierten” Publikums eher pessimistisch und glaubt, dass die jungen Filmschaffenden von heute “ein wenig von der Möglichkeit besessen sind, auf dem Filmmarkt zu existieren, Publikum und vielbeachtete Auftritte zu haben”.

Seiner Meinung nach ist das – fast – hoffnungslos: “Sie stehen im Wettbewerb mit dem amerikanischen und französischen Film, und da sind sie nicht konkurrenzfähig. Manchmal ragt ein Film heraus. Aber das ist noch nicht Filmkunst.”

Zwischen Zuneigung und Genervtheit

Jean-Stéphane Bron war der Autor von “Mais im Bundeshaus” (2003), der beim Publikum wie bei den Kritikern grossen Erfolg hatte. Er arbeitet zur Zeit an einem Spielfilm. In seinen Augen ist Tanner “ein sehr grosser Filmemacher”.

Tanner, Goretta und Murer seien die “Grossväter” der jungen Generation, meint Bron. “Und Enkel sind nett zu ihren Grossvätern. Sie haben sie gern, finden sie amüsant und manchmal sind sie von ihnen genervt.”

Dass Tanner keine Nachfolge sieht, bringt den Lausanner zum Lachen. “Natürlich halten sich die Grossväter gerne für einmalig! Und wenn zufällig doch Nachwuchs auftaucht, ist es nicht ihr Nachwuchs… Das erstaunt mich nicht sehr. Er ist auch ein alter Brummbär!”

Bron sieht diese Nachfolge vor allem in der Form und der Bescheidenheit der Mittel. “Sie haben mit den ersten synchronen Kameras gedreht, wir dagegen machten unsere Filme mit DV.”

Die Nachfolge hängt auch mit diesem “Bezug zum ziemlich komplexlosen Film” zusammen. “Und mit dem absoluten Wunsch, Filme zu machen und von der Welt zu sprechen, zu der wir gehören.”

Tanner will zwar keine Kamera mehr in die Hand nehmen, aber er ist nach wie vor am Film interessiert, einer Kunst, für die er nahezu ein halbes Jahrhundert gelebt hat.

Fünfundsiebzig? “Das Alter steckt einem in den Knochen, das stimmt. Aber das ist mir vollständig egal!”, lacht Tanner, der sich treu – und frei bleibt.

swissinfo, Pierre-François Besson
(Übersetzung aus dem Französischen: Charlotte Egger)

Der Regisseur, Drehbuchautor und Produzent Alain Tanner kommt am 6. Dezember 1929 in Genf zur Welt.
1957 dreht er zusammen mit Claude Goretta seinen ersten Film (“Nice Time”).
1969 folgt der erste Spielfilm “Charles mort ou vif”, der in den Kritiken grossen Erfolg hat und am Festival von Locarno einen Goldenen Leoparden einspielt.
2004 kommt, nach 20 Spiel- und gut 40 Dokumentarfilmen, “Paul s’en va” heraus, den Tanner als seinen letzten Film ankündigt.

Mehrere Spielfilme Tanners hatten sowohl bei den Kritikern wie beim Publikum viel Erfolg. Namentlich “La Salamandre (1971)”, “Jonas qui aura 25 ans en l’an 2000” (1976) und “Dans la ville blanche” (1983).

1981 erhielt der Schweizer Regisseur für seinen in Irland gedrehten Film “Les années lumières” am Filmfestival von Cannes den Spezialpreis der Jury.

Zur Zeit lässt Tanner seine Filme auf DVD überspielen, “denn in diesem Bereich sind die neuen Filmfreunde zu finden”.

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