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Babylonische Theaterturm-Eröffnung auf dem Julierpass

Schwebende Bühne in babylonischem Turm: Das bündnerische Kulturfestival Origen hat auf dem Julierpass ein ungesehenes Theaterbauwerk feierlich eröffnet. KEYSTONE/GIANCARLO CATTANEO sda-ats

(Keystone-SDA) Die Schweiz ist um einen spektakulären Theaterbau reicher: Das bündnerische Kulturfestival Origen hat am Montag auf dem Julierpass einen fast dreissig Meter hohen Theaterturm aus Holz eröffnet. Selbst Bundesrat Alain Berset reiste für den Anlass an.

Das neue Theaterhaus ist schweizweit und wohl auch international einzigartig. Der Turm besteht aus zehn Einzeltürmen die von Bogenfensterwänden zum eigentlichen Turm verbunden werden. Die Zuschauerränge sind ringförmig innen entlang des Turmumrisses angeordnet und verteilen sich auf vier Stockwerke. Die Bühne schwebt aufgehängt in der ersten Etage, darunter befindet sich der Eingangsbereich.

Zwei Millionen Franken kostete der Theaterbau aus der Hand von Origen-Chef Giovanni Netzer. Ein “alpiner Gegenentwurf zu den hermetisch verschlossenen Theaterräumen der Städte” soll der rote Turm sein und den “Dialog zwischen Bühnenspiel und Landschaft” ermöglichen. So soll etwa das strahlende Abendlicht der Sonne auf fast 2300 Metern über Meer den üblichen Scheinwerferhimmel ersetzten. Die Spielzeiten werden dem Sonnenstand angepasst.

Vertikale Theaterinszenierung

Herausforderung und Innovation ist gemäss Netzer, Träger der wichtigsten Schweizer Theaterauszeichnung Reinhart-Ring, die vertikale Bauweise des neuen Theaters. Ein Grossteil der Zuschauer sieht die schwebende Bühne steil von oben. Die geplanten Inszenierungen von Opern-Balletts und Musik-Theatern will man darauf ausrichten. Ein Experiment sei das, ebenso wie der Bau an sich, sagte Netzer zu einem früheren Zeitpunkt.

In allen vier Jahreszeiten will Origen den Turm bespielen. Für den Winter im hochalpinen Klima fehlen noch die notwendige Gebäudeinstallation – und das dafür nötige Geld, eine weitere Million Franken. Nach drei bis vier Jahren soll der experimentelle Bau wieder verschwinden vom Passübergang ins Engadin. Das entspreche der “flüchtigen Kunstform des Theater”, sagte Netzer am Montag vor versammelter Prominenz aus Graubünden und anderen Teilen der Schweiz.

Metapher für die Schweiz

So stark ist die Strahlkraft des mutigen Wurfes, dass Bundesrat Alain Berset per Superpuma-Helikopter anreiste und eine engagierte Eröffnungsrede hielt. Wie andere Redner aus der Bündner Politik thematisierte der Kulturminister die vielfältige, fast schon übermächtige Symbolik des Theaterturmes auf dem Pass.

Nicht weniger als eine Metapher für die Vielfalt der Schweiz sei das Bauwerk, den kulturellen Austausch, für Identität und Ordnung, sagte Berset. Dies Aufgrund der Lage auf einem seit Jahrhunderten wichtigen Passübergang und an der Grenze zwischen mehreren Sprachräumen im dreisprachigen Graubünden.

Der vom babylonischen Turm inspirierte Bau stehe an einem Ort, an dem gemäss dem biblischen Mythos die totale Sprachverwirrung herrschen müsste. So würden in der 200-Seelen-Standortgemeinde Bivio am nördlichen Passfuss sage und schreibe drei Landessprachen gesprochen und zudem noch vier Idiome oder Dialekte. Ausser Französisch sei alles vertreten. Und trotzdem funktioniere das Zusammenleben gut und stehe stellvertretend für das ganze Land.

Identitäts-Mythen alpin thematisiert

All dies will Intendant Netzer in den Julier-Produktionen thematisieren. Nebst dem Experiment mit alpinen Landschaften und theateruntypischen Räumen will er alte Identitäts-Mythen neu interpretieren und mit dem Sprachreichtum der alpinen Regionen arbeiten.

An der Eröffnung gab es eine Kostprobe der ersten Produktion, die ab dem 3. August aufgeführt und bereits bis auf eine Zusatzvorstellung ausverkauft ist. Gezeigt wurden drei Fragmente der dreisprachigen Oper “Apocalypse” in der Form einer Balett-Oper, das Werk aus der Hand des wichtigsten Bündner Opernkomponisten Gion Antoni Derungs.

Höhepunkt der Turmeröffnung auf der schwingenden Hängebühne war ein Tanz-Solo des jungen ukrainischen Ballettstars Sergei Polunin, eigens für den Anlass kreiert von Andrey Kaydanovskiy. Das geladene Publikum dankte mit euphorischem Applaus und war wenig entfernt von einer Standing Ovation.

In den Genuss der Performance werden auch die Besucher der ersten drei Apocalypse-Aufführungen kommen. Dass alle ausverkauft sind, dürfte ein gutes Zeichen für das überaus mutige Vorhaben an der äussersten Schweizer Peripherie sein.

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

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