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Für Psychiater trifft die Revision des Ärztetarifs die Schwächsten

Die Psychiater warnen vor höheren Gesundheitskosten, sollte ihre Arbeit mit dem Umfeld der psychisch Kranken eingeschränkt werden, weil sie dann unweigerlich mehr Patienten einliefern müssten. (Symbolbild) Keystone/GIAN EHRENZELLER sda-ats

(Keystone-SDA) Die Psychiater warnen vor den Folgen für psychisch Kranke, sollte der vom Bundesrat angepasste Ärztetarif TARMED umgesetzt werden. Die Einschränkung der Arbeit mit dem Umfeld der Patienten und der Telefon-Behandlung könnte in Krisen Leben gefährden.

Mit der Revision des Ärztetarifs will der Bundesrat bei ambulanten Leistungen 700 Millionen Franken sparen. Von den Kürzungen betroffen sind auch sogenannte “Leistungen in Abwesenheit”, also ärztliche Tätigkeiten ohne direkten Kontakt mit dem Patienten. Sie stehen im Verdacht, nicht in jedem Fall gerechtfertigt und massgeblich für das Kostenwachstum der letzten Jahre verantwortlich zu sein.

Mit dem neuen Tarifsystem sollen diese Leistungen nun präzisiert und die Zeit, die ein Arzt dafür insgesamt verrechnen darf, halbiert werden. Bei den Psychiatern würden damit nach Angaben der Verbindung der psychiatrisch-psychotherapeutisch tätigen Ärztinnen und Ärzte der Schweiz (FMPP) in Zukunft nur noch 30 Minuten pro Patient und pro Monat anstatt bisher 60 Minuten vergütet.

Arbeit mit Betreuern und Angehörigen

Doch in der Psychiatrie gehe es bei den Leistungen in Abwesenheit um mehr als nur “das Lesen von Patientenakten”, schreibt die FMPP. Im Gegenteil: Die Arbeit mit Bezugspersonen und dem sozialen Umfeld der Kranken sei für eine psychiatrische Behandlung “unverzichtbar”. “Ohne Netzwerkarbeit können wir nicht vernünftig arbeiten”, wird Alexander Zimmer, Psychiater und Tarifverantwortlicher der FMPP, in einer Mitteilung zitiert.

Insbesondere Kinder und Jugendliche, ältere Menschen und Arbeitnehmer mit psychischen Erkrankungen wären von der Kürzung betroffen. In der Alterspsychiatrie zum Beispiel müsse er manchmal mehr mit den Betreuern und Angehörigen als mit den Patienten selber sprechen, sagte Zimmer gegenüber der sda. Und je besser die Arbeit mit dem Umfeld funktioniere, desto länger blieben die Betroffenen selbstständig.

Auch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie sei die Arbeit mit Bezugspersonen ein wesentlicher Teil der Behandlung. “Bei einem Elfjährigen, dem wegen ADHS ein Schulausschluss droht, scheitert die Therapie, wenn das wegfällt”, nennt Alain Di Gallo, Professor für Kinder und Jugendpsychiatrie in Basel in der Mitteilung ein weiteres Beispiel.

Eingeschränkt würde auch die berufliche Integration von psychisch Kranken. Denn gerade sie bräuchten oft professionelle und vernetzte Unterstützung. Falle die Arbeit mit dem Umfeld, den Behörden, der Spitex oder den Angehörigen weg, werde es unweigerlich zu mehr Einweisungen in Kliniken und damit höheren Kosten für das Gesundheitssystem kommen.

Telefonische Beratung gefährdet

Schliesslich gefährde die TARMED-Revision die Patientensicherheit. Denn gemäss FMPP wird dadurch auch die Bezahlung der telefonischen Beratung auf 20 Minuten pro Anruf begrenzt. Bisher gab es bei diesem Punkt eine Ausnahme für “elektronische abrechnende Fachärzte”, gemäss Zimmer ein Grossteil der Ärzteschaft.

Dadurch konnten Telefonate patienten- und situationsbezogen verschieden lang dauern und auch abgerechnet werden. Gleich wie bei den “Leistungen in Abwesenheit” will der Bundesrat die Klausel auch bei der telefonischen Behandlung streichen. Denn gemäss BAG konnte die Limitation “grundsätzlich nicht kontrolliert beziehungsweise durchgesetzt werden”.

Neu müsste der Psychiater die Beratung nun also nach 20 Minuten umsonst anbieten. Für Zimmer wäre das ein “Unding”. Denn es gebe zum Beispiel Patienten, die längere Telefonate benötigten oder sich nicht aus dem Haus trauten. Die psychiatrische Behandlungen per Telefon ermögliche bei ihnen ein zeitnahes und effektives therapeutisches Eingreifen, schreibt die FMPP. Eine Begrenzung könne in Krisensituationen “Leben gefährden.”

Zimmer hofft, dass es sich bei den Auswirkungen der TARMED-Revision auf die Psychiatrie um “einen unbeabsichtigten Kollateralschaden” handelt und der Bundesrat “zumindest die Einschränkungen für die Umfeldarbeit aufhebt”. Sonst wäre die neue Tarifstruktur eine “Katastrophe für die Patienten”. Und der Bundesrat gefährde nicht nur seine eigene Gesundheitsstragie 2020, sondern verunmögliche gar deren Umsetzung.

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

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