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Alte Infrastrukturen – neue soziale Ungerechtigkeiten

Die schöne blaue Donau dient auch heute noch als Abfluss für die Kanalisation in Budapest. swissinfo.ch

Ungarn hat den Kommunismus hinter sich gelassen. Doch seither hat es das Land noch nicht geschafft, die Infrastrukturen zu erneuern. Das soziale Gefälle ist gross.

Der Schweizer Beitrag zur EU-Osterweiterung könnte auf verschiedene Arten eingesetzt werden: für den öffentlichen Verkehr, den Umweltschutz oder zur Förderung von strukturschwachen Regionen.

Budapest, November 2006: 17 Jahre nach dem Ende des Kommunismus ähnelt die ungarische Hauptstadt einer westlichen Metropole.

Grosse Fabriken oder Verteilzentren von multinationalen Unternehmen haben die Peripherie verändert. In der historischen Altstadt haben sich hingegen elegante Restaurants und internationale Boutiquen breit gemacht.

Vom jahrzehntelangen, verordneten Konsumverzicht ist nichts mehr zu spüren. Die alten Lada-Autos sind aus dem Verkehr gezogen und haben neuen Fahrzeugen Platz gemacht. Auch der Verkehrsstau hat westliche Dimensionen.

Doch auf der Strasse leben auch Tausende von Obdachlosen. Wenn es eindunkelt, suchen sich viele ein Plätzchen vor einem Luxusgeschäft in der Innenstadt, gerade so, als ob sie demonstrativ die andere Seite des Wirtschaftsbooms zeigen wollten.

Gewinner und Verlierer

Die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre haben tatsächlich neue Ungleichheiten geschaffen: zwischen neuen Reichen und neuen Armen, zwischen Stadt und Land, zwischen den westlichen, wirtschaftlich boomenden Regionen und den brachliegenden Gegenden im Osten, wo die Arbeitslosigkeit der Bevölkerung bis zu 20% erreicht.

“Der Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft ist vor einigen Jahren abgeschlossen worden. Die raschen Veränderungen haben Sieger und Verlierer erzeugt”, meint lakonisch Abel Garamhegy, Staatssekretär für Wirtschaft und Verkehr.

“Die Sieger sind eine Mehrheit, die Verlierer eine Minderheit. Doch seit einigen Wochen ist diese Minderheit sichtbarer geworden”, sagt Garamhegy gegenüber swissinfo. Damit spielt er auch auf die Demonstrationen der extremen Rechten in Ungarn an, die seit September ihrer Unzufriedenheit in den Strassen von Budapest freien Lauf liess.

Die gewalttätigsten Kundgebungen seit dem Ende der kommunistischen Ära könnten den Anfang grösserer politischer und sozialer Spannungen darstellen.

Die Wirtschaft Ungarns ist in den letzten Jahren dank ausländischen Investitionen enorm gewachsen. Doch gleichzeitig hat die Staatsverschuldung bedrohliche Ausmasse angenommen. Um die Beitrittskriterien zur Euro-Zone zu erfüllen, muss Ungarn in den nächsten Jahren den Gürtel enger schnallen. Höhere Steuern und ein Einschnitt bei den Sozialausgaben scheinen unvermeidbar.

Schmerzhafte Reformen

“Während die Privatwirtschaft fast westliches Niveau erreicht hat, sind die öffentliche Verwaltung, das Gesundheitswesen, die Sozialversicherung und die Infrastrukturen noch nicht im 21.Jahrhundert angekommen”, analysiert Garamhegy. In den nächsten Jahren werde es deshalb zu schmerzhaften Reformen kommen.

Um diese Reformen anzupacken, zählt Ungarn nicht nur auf europäische, sondern auch auf Schweizer Hilfe. Im Falle einer Annahme des neuen Osthilfe-Gesetzes in der Volksabstimmung erhielte Ungarn 130 Millionen Franken – als Beitrag der Schweiz zur EU-Osterweiterung.

Bereits nach dem Zusammenbruch des Kommunismus hat die Schweiz wertvolle Hilfe geleistet. Die Schweizer Kooperationsprogramme waren – gemeinsam mit denjenigen der Niederländer und Japaner – am wirkungsvollsten”, betont János Rapcsák, der bei der Nationalen Entwicklungs-Agentur für internationale Beziehungen verantwortlich zeichnet.

“Die neuen Schweizer Hilfsgelder werden – wenn sie denn kommen – auf der Grundlage eines Rahmenabkommens mit der Schweizer Regierung eingesetzt. Wir wollen diese Mittel vor allem zur Modernisierung der Infrastrukturen sowie im Umweltbereich und im Sozialen einsetzen”, sagt Rapcsák gegenüber swissinfo.

Infrastruktur und Umwelt

“Die Schweizer Osthilfe könnte beispielsweise zur Entwicklung der kleinen und mittleren Unternehmen eingesetzt werden, die im Gegensatz zur den grossen Unternehmen mit ausländischen Investitionen häufig noch recht archaisch geführt werden”, meint Urs Schmid, erster Mitarbeiter des Schweizer Botschafters in Budapest, gegenüber swissinfo.

Weitere Bereiche sind die berufliche Weiterbildung, Erneuerungen im öffentlichen Verkehr, wo immer noch vollkommen veraltetes Rollmaterial eingesetzt wird, oder Verbesserungen in den Infrastrukturen vieler Gemeinden, vor allem bei der Trinkwasserversorgung und der Abfallbewirtschaftung.

Selbst in Budapest werden gemäss Schmid noch die Hälfte der Abwasser direkt in die Donau geleitet. In einigen Gegenden Ungarns gibt es heute noch Epidemien oder auch Todesfälle, die auf verunreinigtes Wasser zurück gehen.

“Zahlreiche Bereiche, die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus keinen Profit versprachen, sind von den Investoren vernachlässigt worden, aber auch vom Staat, der nicht über die nötigen Mittel verfügt”, sagt Schmid.

swissinfo, Armando Mombelli, Budapest
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

Mit dem Beitritt von 10 neuen Mitgliedsstaaten am 1.Mai 2004 ist der europäische Binnenmarkt um 75 Millionen auf insgesamt 475 Millionen Bürger gewachsen.

Dank der bilateralen Abkommen mit der EU kann auch die Schweiz von diesem neuen Markt profitieren.

Die EU-Erweiterung sollte das Schweizer Wirtschaftswachstum um 0,2 bis 0,5% pro Jahr steigen lassen.

In die 8 neuen osteuropäischen Mitgliedsstaaten der EU gelangen schon jetzt 3% der Schweizer Exporte.

Im Jahr 2005 wies die Handelsbilanz der Schweiz mit diesen Staaten einen Überschuss von 1,3 Mrd. Franken auf.

Aus dem Strukturfonds und Kohäsionsfonds überweist die EU ab 2007 rund 33 Mrd. Franken im Jahr, um die sozialen Ungleichheiten in den zehn neuen Mitgliedsstaaten zu verringern und die wirtschaftliche Entwicklung zu unterstützen.

Auf Anfrage der EU hat die Schweizer Regierung im Jahr 2004 zugestimmt, sich mit eine Milliarde Franken an der EU-Erweiterung zu beteiligen.

Im März 2006 hat das Schweizer Parlament das Bundesgesetz über die Zusammenarbeit mit den Staaten Osteuropas, kurz Osthilfegesetz, verabschiedet. Dieses stellte die gesetzliche Grundlage für den Schweizer Kohäsionsbeitrag dar.

Gegen dieses Gesetz ist erfolgreich das Referendum lanciert worden. Daher kommt es am kommenden 26. November zur Volksabstimmung.

Seit 1990 hat die Eidgenossenschaft bereits 3,45 Mrd. Franken ehemaligen kommunistischen Staaten in Osteuropa zur Verfügung gestellt, um den Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft zu unterstützen.

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