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Warum die Rentnerwelle die Robotisierung vorantreibt

zwei ältere Arbeitnehmer protestieren auf der Strasse gegen drohende Entlassungen
Zwei Journalisten protestieren 2018 in Bern gegen drohende Entlassungen bei der Schweizerischen Nachrichtenagentur SDA. Werden Stellen abgebaut, trifft es häufig ältere Arbeitnehmende. Keystone / Anthony Anex

Die Zeit, als sich in der Schweiz fast alle Männer mit 65 und Frauen mit 64 Jahren pensionieren liessen, ist vorbei. Einerseits arbeiten immer mehr Menschen "freiwillig" über das gesetzliche Rentenalter hinaus. Andererseits gehen immer mehr Arbeitnehmende schon vorher in Pension – trotz Fachkräftemangels. Letzteres fördert die Robotisierung, sagt ein Arbeitsmarkt-Experte.

In der Schweiz kommen die Geburtenstarken Jahrgänge (Babyboomer) ins Rentenalter. Solange sie im Arbeitsprozess bleiben, sorgen sie in manchen Betrieben für eine überalterte Belegschaft. Aber wenn sie in den kommenden Jahren zu Hundertausenden – und oft sogar vorzeitig – in Pension gehen, hinterlassen sie einen Fachkräftemangel. Laut Marco SalviExterner Link, Arbeitsmarktexperte beim Think-Tank Avenir Suisse, wird diese volkswirtschaftliche Herausforderung unterschätzt,  

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swissinfo.ch: Eine renommierte Schweizer Zeitung schrieb kürzlich: ‘Die Firma […] hat ein Problem: Ihre Belegschaft ist überaltert!’ Sind ältere Arbeitnehmende ein Problem für eine Firma?

Marco Salvi: Das würde ich nicht sagen, eher im Gegenteil: Sie sind produktiver….

swissinfo.ch: …aber…?

M.S.: …aber es gibt Studien, die zeigen, dass ältere Arbeitnehmende etwas weniger innovationsfreudig sind. Andererseits steigt das Alter der Start-up-Gründer: In den USA liegt es nun bei 45 Jahren. Die Frage bleibt also offen.

swissinfo.ch: Welche anderen Defizite haben ältere Arbeitskräfte sonst noch?

M.S.: Ich würde nicht von Defiziten sprechen. Wer während langer Zeit in der gleichen Firma tätig ist, hat einerseits den Vorteil der Spezialisierung – firmenspezifische Fähigkeiten, Kenntnisse und Erfahrungen. Auch deshalb wird diese Spezialisierung vom Arbeitsmarkt finanziell entschädigt.

Andererseits birgt dies das Risiko einer zu hohen Spezialisierung, nämlich dann, wenn diese spezifische Erfahrung nicht mehr so nachgefragt ist. 

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swissinfo.ch: Salopper ausgedrückt: Alte Arbeitnehmende haben immer alles schon erlebt, wissen alles besser, sind betriebsblind und erst noch teurer. Also lohnt es sich für den Betrieb, diese Leute lieber früher als später loszuwerden.

M.S.: Die hohen Löhne sind nicht einfach ein Altersgeschenk, sondern spiegeln in der Regel die Folge einer höheren Produktivität. Unternehmen sorgen sich auch für ihre Reputation auf dem Arbeitsmarkt, weil sie gute Mitarbeiter langfristig an sich binden wollen. Auch deshalb kommt es selten vor, dass Unternehmen ältere Arbeitnehmende entlassen, um jüngere einzustellen. Aber es ist klar, dass auch junge Arbeitnehmende Stärken haben, meistens andere. 

swissinfo.ch: Nämlich?

M.S.: Sie kommen mit neuerem Wissen, sind weniger spezialisiert und dadurch leichter formbar. Im IT-Bereich zum Beispiel ist die Abschreibungsrate des Wissens sehr hoch. Aus der Sicht eines älteren Arbeitnehmenden scheint es vielleicht manchmal nicht mehr lohnend zu sein, sich neues Wissen anzueignen.

swissinfo.ch: Fazit: Im Idealfall ist die Belegschaft gut durchmischt?

M.S.:  Auf jeden Fall: eine Durchmischung nicht nur bezüglich des Geschlechts, sondern auch der Fähigkeiten und Erfahrungen, die sich ergänzen. 

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swissinfo.ch: Angesichts der demografischen Entwicklung – die Babyboomer kommen ins Rentenalter – wird eine überalterte Belegschaft in den Betrieben künftig eher die Regel als die Ausnahme sein, oder nicht?

M.S.: In den kommenden Jahren werden mehrere 100’000 Personen in Pension gehen. Damit wird zwar die Altersdurchmischung zuerst etwas steigen, aber es wird nicht einfach sein, diese Arbeitnehmenden zu ersetzen. Das ist vor allem volkswirtschaftlich ein Problem – nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für die Sozialwerke. Diese Herausforderung wird immer noch unterschätzt.

swissinfo.ch: Was soll man dagegen tun?

M.S.: Die Unternehmen können reagieren, einige tun es auch, indem sie zum Beispiel digitalisieren und automatisieren. In Ländern wie Japan oder Deutschland, die eine ungünstige demografische Entwicklung haben, werden sehr viele Roboter eingesetzt, nicht zuletzt, weil das Angebot an Arbeitskräften knapper wird.

swissinfo.ch: Steht die Schweiz demografisch besser da als Japan oder Deutschland?

M.S.: Japan ist ein extremes Beispiel. Die Bevölkerung altert dort sehr rasch. Die Geburtenrate ist tief. Und es gibt kaum Zuwanderung. Das galt in geringerem Ausmass auch für Deutschland, wobei sich die Situation dort in den letzten Jahren geändert hat. Dass die Schweiz demografisch besser dasteht, liegt vor allem an der Zuwanderung. Es sind meistens junge Leute, die mobil sind. Sie gründen dann eine Familie und bekommen Kinder.

swissinfo.ch: Zurück zu den Alten: Ist es volkswirtschaftlich sinnvoll, die Arbeitnehmenden über das gesetzliche Pensionsalter hinaus an der Stange zu halten?

M.S.: Bestimmt. Avenir Suisse plädiert schon lange für eine Flexibilisierung des Pensionsalters und Anpassung an die steigende Lebenserwartung. Es sollte keine Obergrenze in Bezug auf das Pensionierungsalter geben. Wer länger arbeiten will, soll auch länger in die Sozialwerke einzahlen können. Es braucht jedoch eine Untergrenze sowie einen automatischen Anpassungsmechanismus an die steigende Lebenserwartung.

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M.S.: Ich glaube nicht. Es gibt keine negativen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt für die Jungen. Wer länger arbeitet, konsumiert mehr, was eine zusätzliche Nachfrage nach Arbeit auslöst. In ganz Europa kann man beobachten, dass mehr Leute nach dem gesetzlichen Pensionsalter weiterarbeiten wollen, vor allem Teilzeit.

swissinfo.ch: Andererseits hat fast die Hälfte der Arbeitenden schon vor dem gesetzlichen Rentenalter keine Lust mehr zu arbeiten. Wäre es nicht einfacher zu versuchen, diese Leute an der Stange zu halten, anstatt das gesetzliche Rentenalter zu erhöhen?

M.S.: Eine schrittweise Anhebung des Referenz-Rentenalters schliesst eine höhere Flexibilität nicht aus. Es darf aber keine Umverteilung zulasten derjenigen geben, die später in Rente gehen.

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