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Arabische Revolutionen: Schweiz definiert Strategie

Seit der tunesische Präsident Ben Ali im Januar durch die Revolution entmachtet wurde, sind rund 23'000 Tunesier als Flüchtlinge auf der süditalienischen Insel Lampedusa angekommen. Keystone

Die Schweiz will auf wirtschaftliche Zusammenarbeit setzen, die Rückführung gestohlener Gelder vorantreiben und sich auf den Migrationsbereich konzentrieren. Dies sind die Schwerpunkte der Schweizer Botschafter in Nordafrika und im Nahen Osten.

Beruhend auf der grundsätzlichen Strategie, die der Bundesrat am 11.März dieses Jahres verabschiedet hat, haben die Schweizer Botschafter an ihrer Konferenz in Tunis drei Bereiche erarbeitet. “Die drei Schwerpunkte sind, kurz gesagt, die wirtschaftliche Zusammenarbeit, die Rückgabe gestohlener Vermögen und der Migrationsbereich”, sagte Lars Knuchel, Sprecher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA), in Tunis vor den Medien. Aufgrund der politischen Umwälzungen in Nordafrika war eine neue Strategie nötig geworden.

“Die Strategie gilt für den ganzen nordafrikanischen Raum, nicht nur für die Länder, in denen nun eine Revolution stattgefunden hat”, hielt Marcel Stutz, Leiter der Politischen Abteilung II beim EDA, fest. “Wichtig ist trotzdem: Jedes Land hat seine Geschichte und auch seine Schwierigkeiten. Man muss in jedem Fall differenziert vorgehen.”

Die Schweiz biete nur “on demand”, also auf Verlangen, Unterstützung an. In Ländern, die nicht auf die Schweiz zukämen, könne diese nichts ausrichten. “Deshalb ist es schon so, dass zur Zeit ein geografischer Schwerpunkt auf Tunesien liegt, wir arbeiten gut mit der Übergangsregierung zusammen.”

Wirtschaftliche Zusammenarbeit

Es seien bekanntlich vor allem Jugendliche und junge Männer, die in den nordafrikanischen Ländern arbeitslos seien, sagte Stutz. Diese hätten häufig keine Ausbildung und seien nicht in die Arbeitswelt integriert. “Zusammen mit den Schweizer Unternehmen in den entsprechenden Ländern versuchen wir, sie in die Arbeitswelt zu integrieren”, sagte Stutz. “Die Möglichkeit, dass ein paar von ihnen in der Schweiz ein Praktikum machen, besteht schon heute mit einem Stagiaire-Visum”, sagte er. Ein Stagiaire-Visum erlaubt es jungen Menschen, bis zu 18 Monate in der Schweiz auf ihrem Beruf zu arbeiten.

In Diskussion sei, eine neue Art von Praktikumsmöglichkeiten zu schaffen, die es jungen Menschen leichter machen würde, ein paar Monate in der Schweiz zu verbringen. Diesbezüglich sei nichts beschlossen worden, sagte Eduard Gnesa, Sonderbotschafter für Migration von der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza), dazu.

Rückgabe gestohlener Vermögenswerte

Zu der Rückgabe gestohlener Vermögenswerte hielt Valentin Zellweger, Direktor der Direktion für Völkerrecht beim EDA, fest, dass der Bundesrat im Januar beispielsweise die Gelder des so genannten Ben Ali-Clans blockiert habe. “Es ist nun an der tunesischen Regierung, Strafverfahren gegen einzelne Personen durchzuführen. Die Schweiz wird die Gelder bei rechtsstaatlich gefällten Gerichtsurteilen zurückgeben.”

Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey hatte am Tag zuvor öffentlich gemacht, wie viele Vermögenswerte von nordafrikanischen Potentaten zur Zeit in der Schweiz auf Schweizer Konten blockiert sind: Rund 60 Millionen Franken des Ben Ali-Clans, rund 400 Millionen des Mubarak-Clans und rund 360 Millionen des Gaddafi-Clans.

Migration

Was die Migration betrifft, möchte die Schweiz die Situation verbessern helfen, so dass die Menschen ihre Herkunftsländer nicht mehr verlassen müssen. Rund 600’000 Menschen hätten Libyen seit Ausbruch des Krieges verlassen, sagte Eduard Gnesa. “Nur rund 30’000 Menschen sind nach Südeuropa gelangt.” Rund 20’000 Personen seien Tunesier, die in Libyen ihr Einkommen verloren hätten. Sie warteten darauf, zurückgehen zu können, denn sie wüssten, dass es in Libyen wieder Arbeit geben werde. Unter den nach Südeuropa gelangten Menschen gebe es jedoch auch politische Flüchtlinge, beispielsweise aus Somalia.

Die Schweiz strenge sich weiterhin an, den Tunesiern, die in Libyen gearbeitet hätten, die Reintegration in Tunesien zu erleichtern, erklärte Gnesa.

Auch nach dieser Botschafterkonferenz halte sich die Schweiz an die Schengen/Dublin-Abkommen. Einerseits wird durch die Vereinbarung eine gemeinsame europäische Grenze definiert, und andererseits werden gemäss dieser Abmachung Flüchtlinge in dasjenige Land zurücküberstellt, durch das sie nach Europa eingereist sind. “Schengen/Dublin funktioniert”, sagte Gnesa. Die Schweiz habe im Monat März 5000 Personen in die Erstländer zurückgeschickt und 780 durch das Schengen/Dublin-Abkommen aufgenommen.

“Es gibt auch eine Migration von Europa zurück nach Tunesien und Ägypten”, hielt Gnesa fest. “Im Moment sind das zwar noch nicht sehr viele Leute, die zurückkehren, aber die Rückwanderung könnte sich noch verstärken.”

Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) hat in einer ersten Tranche 12 Mio. Franken seines Budgets für Projekte und Massnahmen gesprochen in den Bereichen humanitäre Hilfe, Migration, strukturelle Reformen, wirtschaftliche Entwicklung und Kampf gegen die Armut.
 
Das Budget für die Entwicklungszusammenarbeit der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) beträgt 2011 und 2012 für diesen Bereich des Mittelmeerraums zwischen 20 und 30 Mio. Franken.

Die Schweiz hat am 19. Januar Vermögenswerte, die in Zusammenhang mit Tunesiens Expräsident Ben Ali und etwa 40 Personen aus dessen Umfeld stehen, blockiert – eine Woche, nachdem er gestürzt worden war.
 
Im Februar hat die Schweiz Vermögenswerte des ägyptischen Expräsidenten und seiner Mitarbeiter blockiert.

Wie viel Mubarak besitzt, bleibt ein Geheimnis, aber Behauptungen, dass er mit seinen Söhnen insgesamt bis zu 70 Mrd. Dollar angehäuft haben soll, führten schliesslich zu den Protesten und seinem Abgang.
 
In beiden Fällen bleibt das Geld während dreier Jahre eingefroren. Kann die unrechtmässige Herkunft des Geldes innerhalb dieser Zeit nachgewiesen werden, muss zusammen mit der Schweiz ein Rückgabe-Modell erarbeitet werden.
 
Kann dies nicht bewiesen werden, müssen die Vermögenswerte wieder freigegeben werden.

In diesem Fall könnte der Bundesrat das im Februar in Kraft getretene Gesetz über die Rückerstattung unrechtmässig erworbener Vermögenswerte (RuVG) anwenden.

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