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“Le Corbusier bleibt eine Referenz”

Keystone

Auch wenn sich die neue Schweizer Architektengeneration von der älteren inspirieren lässt, behält sie ihre eigene Gestaltungsfreiheit. Welches sind ihre Lieblingsthemen und Tendenzen? Antworten von Kunsthistorikerin Lorette Coen.

Le Corbusier, Herzog & de Meuron, Mario Botta, Peter Zumthor und andere haben die Schweizer Architektur international zu Ruhm gebracht. Stararchitekten. Die junge Schweizer Architektengeneration hat es noch nicht zur selben Berühmtheit gebracht, aber es fehlt ihr nicht an Ambitionen.

Aus Anlass des 125. Geburtsjahres von Le Corbusier unterhielt sich swissinfo.ch mit der Kunsthistorikerin Lorette Coen.

swissinfo.ch: Wenn Sie heute die jungen Schweizer Architekten charakterisieren müssten, würden Sie Unterschiede zwischen Romands, Tessinern und Deutschschweizern ausmachen?

Lorette Coen: Unterschiede festlegen ist das letzte, was ich tun würde. Denn im Gegensatz zur Vergangenheit ist der Austausch zwischen den drei Sprachregionen der Schweiz heute intensiv. Früher interessierten sich die Westschweizer Architekten nicht für ihre Berufskollegen in der Deutschschweiz und umgekehrt. Und die Tessiner Architekten waren auf Mailand ausgerichtet.

Die Zeiten haben sich aber verändert. Die Frankophonen gehen ein oder zwei Jahre  nach Zürich oder Berlin arbeiten, die Deutschsprachigen kommen in die Romandie. Und mehrere junge Architekturbüros haben sich an der Grenze zwischen den Sprachregionen etabliert. Es gibt also einen grossen Austausch. Kurz, man kann die jungen Schweizer Architekten nicht eindeutig identifizieren.

swissinfo.ch: Aber kann man wenigstens einen Stil identifizieren?

L.C.: Ich würde sagen: nein. Man kann jedoch bei den einen und anderen eine gleiche Tendenz erkennen. Zum Beispiel ihr wachsendes Interesse für eine einfache Architektur.

Die jungen Architekten verwenden heute keine Luxusmaterialien wie Stein. Sie greifen eher zu Holzfaserplatten, zum Beton, zu Blech- und Aluminiumlegierungen. Dies aus wirtschaftlichen, aber auch ökologischen Gründen. Alle unsere Architekten passen sich da an, aber in unterschiedlichem Mass. Einige von ihnen dosieren ihren Energieverbrauch mehr als andere.

swissinfo.ch: Gibt es ein Thema in der Bauindustrie, das bei jungen Architekten besondere Aufmerksamkeit erweckt?

L.C.: Ja, der Wohnungsbau. Aber zuerst rasch eine historische Präzisierung: Der Zweite Weltkrieg hat die Suspendierung aller Architekturprojekte in Europa, auch in der Schweiz, bewirkt. In den Nachkriegsjahren (1950-1960) hat man sich hektisch dem Wohnungsbau verschrieben. Dann legte sich diese Hektik ein wenig.

Heute ist das Interesse für den Wohnungsbau wieder erwacht. Nur haben die jungen Architekten gelernt, den Raum anders zu denken, die Art ihn auszufüllen, zu bewohnen.

swissinfo.ch: Gibt es eine Verbindung zwischen den jungen Architekten und Le Corbusier, bekannt für seinen sparsamen Umgang mit dem Raum in seinen berühmten Blockhäusern?

L.C.: Le Corbusier bleibt für die jungen Architekten ganz klar eine Referenz. Aber Achtung, das heisst nicht, dass sie ihn nachahmen und Wohnblöcke bauen. Was bei ihrer Arbeit zählt, sind mehr die sozialen Parameter als die Vertikalität der Gebäude. Ihre Überlegungen drehen sich um diese Fragen: Welche Art von Stadt wollen wir? Welche Mobilität? Welche Zugänglichkeit? Es ist also die Sachdienlichkeit, die vorgeht.

Früher war es die Virtuosität, jene Virtuosität, die genau Künstler wie Le Corbusier oder seinen französischen Kollegen Jean Nouvel charakterisieren, denen es darum geht, ein perfektes architektonisches Objekt zu produzieren. Wenn es eine Verbindung zwischen der jungen Schweizer Architektengeneration und Le Corbusier gibt, dann liegt sie in der Art, ein Projekt zu denken.

swissinfo.ch: Können Sie uns einige jüngst realisierten, für sich selbst sprechende Projekte von unseren jungen Architekten aufzählen?

L.C.: Ich denke da namentlich an die kleine Villa aus Metall und Glas, die vom Genfer Büro Made in Sàrl in Chardonne, Kanton Waadt, gebaut wurde. Die kleine Villa steht an der Hangflanke im Lavaux und widerspiegelt die Weinberge, die zum See hinunter fallen.

Ein weiteres Beispiel: Der Stall (für 30 Kühe) in Lignières, Kanton Neuenburg, realisiert vom Lausanner Büro Localarchitecture. Von diesem Büro stammt auch die Kapelle von Saint-Loup, Kanton Waadt, ein architektonisches Wunderwerk in Origami-Form (die Kunst des japanischen Papierfaltens) im religiösen Bereich der Diakonissinnen.

Das sind ein paar Beispiele experimenteller Architektur.

swissinfo.ch: In der Schweiz gibt es eine ganze Anzahl von Büros, die mit ausländischen Architekten verknüpft sind. Ist diese Praxis üblich oder eine aktuelle Bereicherung infolge der Globalisierung?

L.C.: Die Zusammenarbeit zwischen jungen Architekten verschiedener Herkunft ist kein neuer Trend. Wenn Sie zu Herzog & de Meuron gehen, werden Sie feststellen, dass dort 20 Sprachen gesprochen werden. Ein weiteres Beispiel: Das Tandem Richter und Dahl Rochat in Lausanne. Ersterer ist Schweizer, der andere Argentinier.

Die Zusammenarbeit mit Ausländern ist also eine alte Praxis. Sie hat sich heute vielleicht noch verstärkt, denn angesichts der Wirtschaftskrise in Europa tendieren viele junge europäischen Architekten zur Teilnahme an Wettbewerben in der Schweiz. Jüngst gewann ein katalanisches Büro, Estudio Barozzi Veiga, den Wettbewerb für das neue Musée cantonal des beaux arts in Lausanne. Um während des Baus eine Antenne in der Schweiz zu haben, wird das katalanische Büro mit Fruehauf Henry & Viladoms zusammenarbeiten, Basler Architekten, die sich in Lausanne niedergelassen haben.

Der Austausch ist, wie ich schon sagte, intensiv, sowohl innerhalb der Schweiz wie auch zwischen der Schweiz und dem Ausland.

Die Kunsthistorikerin, Journalistin und Kuratorin Lorette Coen ist 1943 in Brasilien geboren. Sie lebt und arbeitet in der Schweiz.

Diplom der Geisteswissenschaften an der Universität Lausanne und der Universität Paris VIII.

Coen ist Expertin für Landschaftsarchitektur. Von 1997 bis 2000 lancierte und leitete sie das Projekt “Lausanne jardins”, Reflexionen und Ausstellungen über die Gärten im öffentlichen Raum.

Sie war auch Jurymitglied bei der Vergabe von Schweizer und internationalen Preisen.

Ferner war sie Kuratorin der Ausstellung “Grands paysages d’Europe” bei der Stiftung César Manrique in Lanzarote im Jahr 2008.

Als Essayistin hat Lorette Coen namentlich “Lausanne, côté jardins” publiziert (Editions Payot).

(Übertragung aus dem Französischen: Jean-Michel Berthoud)

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