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Italien überlässt Flüchtlinge weitgehend sich selbst

Mitte März haben die Mailänder Behörden den ehemaligen Bahnhof der Porta Romana geräumt. Dort lebten rund 100 Obdachlose, vorwiegend Flüchtlinge, ohne Trinkwasser und Strom. Caritas Ambrosiana, Milano

Jedes Jahr kommen Tausende Flüchtlinge aus Italien in die Schweiz. Hauptgrund: Ein Mangel an Unterkünften und Arbeit sowie fehlende Integrationsmassnahmen in Italien. Doch die meisten dieser Flüchtlinge müssen in der Schweiz mit einer Rückweisung rechnen. Ein Augenschein in Mailands Flüchtlingszentren.

Es ist 10 Uhr vormittags. Vivian sitzt vor dem Fernseher. Sie betrachtet die Bilder und versucht, einige Sätze zu erfassen. Um Italienisch zu lernen, wie sie sagt. Aber auch um die Zeit totzuschlagen. Denn: “Hier gibt es nichts zu tun – keine Arbeit, keine Schule.”

Vivian ist vor zwei Jahren nach dem Fall des Regimes Mubarak zusammen mit ihrem Ehemann und drei kleinen Kindern aus Ägypten geflohen. Nach ihrer Ankunft in Italien wurden sie zuerst ins Flüchtlingszentrum Cara von Mineo auf Sizilien gebracht. Gemäss italienischer Gesetzgebung hätten sie dort maximal 35 Tage bleiben dürfen. Dieser Zeitrahmen ist angesetzt, um die Identität der Flüchtlinge festzustellen und Verfahrensfragen zu regeln.  

Die  Bedingungen im Durchgangszentrum von Mineo sind mehr als dürftig. Das Zentrum mit 1300 Plätzen ist chronisch überbelegt. Und die Integrationsmassnahmen für Flüchtlinge sind absolut unzureichend.

Vivian ist mit ihrer Familie ein ganzes Jahr in Mineo geblieben. Dann erfuhren sie von anderen Flüchtlingen, dass es in Milano angeblich besser sei. So machten sie sich in die lombardische Hauptstadt auf. Sie verfügten über einen so genannten “Status für humanitären Schutz”. Es handelt sich gemäss italienischem Gesetz um eine Art nationalen Flüchtlingsausweis, der das Recht auf einen einjährigen Aufenthalt gibt.

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Prekäre Verhältnisse

Wir treffen Vivian im Frauenzentrum von Mailand in der Via Sammartini, unweit des Hauptbahnhofs Milano Centrale. Hier leben rund 30 Frauen und ebenso viele Kinder. Die meisten sind Flüchtlinge. Dazu kommen noch einige Asylbewerber, die maximal 10 Monate bleiben dürfen.

“Flüchtlinge haben kein Recht auf ein Existenzminimum; sie finden keine Arbeit und keine Wohnung. Häufig leben sie in äusserst prekären Verhältnissen und sind auf die Unterstützung von Hilfs- und Migrantenorganisationen angewiesen. Die Zentren können meistens nicht mehr leisten, als diesen Menschen ein Dach über dem Kopf zu geben.

Jeden Monat kommen Tausende in Italien an”, sagt Don Roberto Davanzo. Er ist Direktor der Caritas Ambrosiana von Mailand, welche die Aufnahmezentren in der Lombardei im Auftrag der Gemeinden führt.

Im Jahr 2011 gab es in Italien gemäss dem UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) 34‘120 Asylgesuche; im Jahr 2012 waren es noch 15‘170.

Dazu kommen gemäss Schätzungen der UNO weitere 58‘000 politische Flüchtlinge. Die nationalen Empfangszentren für Flüchtlinge verfügen aber nur über rund 10‘000 Plätze. Auch die regionalen Zentren vermögen die Lücke nicht zu schliessen. Daher gibt es Wartelisten. In Mailand warten allein 40 Mütter und Kinder auf einen Platz im Zentrum an der Via Sammartino.

Italien gehört zu den wenigen europäischen Ländern, die über kein nationales Asylgesetz verfügen. Es gibt einzig eine Reihe von Regierungsdekreten, welche das Flüchtlingswesen regeln. Dabei ist Italien wegen des Dublin-Abkommens besonders exponiert. “Das System ist zersplittert und schafft grosse Ungleichheiten zwischen den Regionen”, sagt Beat Schuler, Jurist beim UNHCR in Rom, auf Anfrage am Telefon.

Am 5. Juni 2005 hiess das Schweizer Stimmvolk die Verträge Schengen/Dublin in einer Referendumsabstimmung mit 54,6% Ja-Stimmen gut (Recht, Polizei, Visumspflicht, Asylwesen). Die Abkommen traten am 12.Dezember 2008 in Kraft. 30 Länder sind beteiligt.

Laut dem Abkommen wird jedes Asylgesuch jeweils von nur einem Mitgliedstaat behandelt.

Diese Prozedur basiert auf EU-Regeln, die seit 2008 auch ins Schweizer Recht aufgenommen worden sind. Es soll verhindert werden, dass eine Person in mehreren Dublin-Staaten ein Asylgesucht stellt.

Ein Land kann einen Asylbewerber in das Land zurückschicken, in dem dieser seinen ersten Asylantrag gestellt hat. Auf einen weiteren Antrag wird gar nicht erst eingetreten.
 
In den letzten Jahren waren rund 40 Prozent der Asylgesuche in der Schweiz Dublin-Fälle. 2012 gab es 11‘029 Dublin-Fälle in der Schweiz: 6‘605 betrafen Italien, 824 Frankreich, 675 Deutschland, 563 Österreich.

Das Bundesamt für Migration veröffentlicht keine Statistik zur Zahl der Asylbewerber, die wiederholt einen Asylantrag in der Schweiz stellen und im Rahmen des Dublin-Abkommens bereits die Schweiz verlassen mussten.

Verzweifelte Suche nach Arbeit

Wir sind mittlerweile in einem  Aussenquartier von Mailand, nahe des Bahnhofs Bignami: Am Ende eines Strässchens steht ein altes Gebäude aus Fertigteilen, eingerahmt von einem grünen Zaun. Von aussen erinnert es eher an eine verlassene Lagerhalle als an eine Empfangsstelle. Früher war dieses Gebäude eine Schule, heute leben dort rund 50 Männer.

An diesem Nachmittag ist das Zentrum praktisch verwaist. Die Bewohner müssen nach dem Frühstück das Gebäude verlassen. Die meisten gehen auf Arbeitssuche: In Fabriken, auf Baustellen oder in der Landwirtschaft. Doch in Krisenzeiten ist es schwierig, einen Job zu finden, selbst für sehr billige Arbeitskräfte.

Im Gemeinschaftsraum sitzen ein halbes Dutzend Männer und diskutieren mit den Sozialarbeitern. Sie sprechen über die 10 Monate, die sie in diesem Zentrum verbracht haben. Bald müssen sie diese Empfangsstelle verlassen und sich ein anderes Zuhause suchen. Bisher hat kaum jemand eine Alternative gefunden. In der Regel finden einige bei Freunden Unterschlupft, andere tauchen ganz unter, beispielsweise in einer der vielen illegalen Barackensiedlungen Italiens.

Laut den Freiwilligen der Mailänder Nichtregierungsorganisation Naga Har handelt es sich um Zustände wie in der Dritten Welt. Sie inspizieren häufig diese besetzten Orte. Die Leute schlafen auf Matratzen,  die einfach auf den nackten Boden geworfen werden; häufig wimmelt es von Ratten. Von Trinkwasser und Elektrizität kann man hier nur träumen.

Den Flüchtlingen und Asylbewerbern steht noch eine weitere Möglichkeit offen: Sich erneut auf die Reise zu begeben. Manche denken daran, nach Süden zu gehen, in der Hoffnung auf Arbeit in der Landwirtschaft. Anderen denken an eine Reise Richtung Norden, um in die Schweiz, nach Deutschland oder Holland zu gelangen.

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“Asyl-Tourismus”

Gemäss Beat Schuler vom UNHCR wird Italien von Flüchtlingen vor allem als Eingangstor nach Europa genutzt, aber nicht mit dem Ziel, um sich hier niederzulassen. Die Flüchtlinge versuchten in Länder zu gelangen, in denen es schon eine Gemeinschaft ihrer Landsleute gebe, und wo die Lebens- und Arbeitsbedingungen besser seien als in Italien. Die Schweiz kann in diesem Sinne ein Ziel-, aber auch ein Transitland sein.

Flüchtlinge, die in die Schweiz gelangen, haben häufig bereits in einem anderen Land einen Asylantrag gestellt, vor allem in Italien. Daher müssten sie gemäss dem Dubliner-Abkommen nach Italien zurückgeschafft werden. Zumindest theoretisch.

Im Jahr 2012 hat die Schweiz in anderen Ländern die Rücknahme von 11‘029 abgewiesenen Asylbewerbern beantragt. 6605 Fälle betrafen Italien.

Nicht einmal die Hälfte (2‘981) ist effektiv nach Italien zurückgeschafft worden. Gemäss dem Bundesamt für Migration (BfM) gibt es dafür viele Gründe: Gesundheitsprobleme, ausstehende Rekurse, ein Abtauchen in die Illegalität oder eine Flucht ins Ausland. Einige Asylbewerber wehren sich zudem gegen eine Rückschaffung; häufig vergehen Monate, bis für sie ein “Sonderflug” organisiert ist.

Eine der Prioritäten der Schweizer Asylpolitik ist eine Beschleunigung der Verfahren.  Doch in Wirklichkeit stösst das Vorhaben schnell an seine Grenzen.

Wenn die abgewiesenen Asylbewerber in Mailand oder Rom landen, den beiden Rückaufnahme-Flughäfen gemäss dem Dublin-Abkommen, werden sie nicht umgehend in ein italienisches Flüchtlingszentrum gebracht, wie man meinen könnte. “Sie werden als freie Bürger angesehen”, sagt Don Roberto Davanzo. Sie haben einige Zeit, um sich bei der Polizei zu melden und wieder in das Asylverfahren einzusteigen. “Soweit wir wissen, gibt es aber einige, die sich gleich wieder auf den Weg in Richtung Schweiz oder Deutschland machen. Kann man es Ihnen übel nehmen?”, fragt Don Roberto Davanzo.

Die gravierenden Mängel im italienischen Asylwesen haben die europäische Kommission veranlasst, im Oktober 2012 ein Verfahren gegen Italien wegen Verstosses der EU-Regeln einzuleiten.

Deutschland und Schweden haben wiederholt in besonders sensiblen Fällen darauf verzichtet, die Rückführung von Asylbewerbern nach Italien vorzunehmen. Das Bundesamt für Migration erklärt auf Anfrage von swissinfo.ch, zum Entscheid der Europäischen Kommission nicht Stellung genommen zu haben, mit der Begründung, dass es erst um eine Vorankündigung handle, die noch nicht veröffentlicht wordne sei.

Vor zwei Jahren hatte die Schweizer Flüchtlingshilfe gefordert, die Rückschaffungen nach Italien gänzlich einzustellen.

Einfach auf die Strasse gestellt

Wir sind noch immer in Mailand. Es ist ein kalter und regnerischer Tag. Der Frühling will nicht kommen. Aus diesem Grund hat die Stadt Mailand beschlossen, die Öffnungszeiten für die Notschlafstätten für Obdachlose zu verlängern. In genau diesen Strukturen haben viele Asylsuchende aus Nordafrika in den letzten Wochen Unterschlupf gefunden.

Ende Februar hatte die italienische Regierung beschlossen, die so genannten Sonderzentren  “Notsituation Nord-Afrika” zu schliessen. Diese Zentren haben seit 2011 rund 28‘000 Flüchtlinge aufgenommen. Die Flüchtlinge wurden dort untergebracht, ohne jede Integrationsmassnahme. Nachdem die Krise für “beendet” erklärt wurde, hat Italien 13‘000 Personen einfach vor die Tür gesetzt, ausgestattet mit 500 Euro und einem dreimonatigen Reisevisum.

Wo werden diese Flüchtlinge unterkommen? Die italienischen NGO befürchten, dass viele als Obdachlose auf der Strasse landen werden. Auch auf die Schweiz könnte möglicherweise eine neue Flüchtlings-Welle zukommen, auch wenn das Bundesamt für Migration unterstreicht, bisher keine Veränderungen beim Fluss der Migranten festgestellt zu haben.

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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