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Atomausstieg oder doch noch eine Hintertüre?

Das AKW Gösgen: definitiv keine neue Technologie. Reuters

Ein Teilausstieg aus dem Atomausstieg, das Klumpen-Risiko Grossbanken, der starke Franken und die Exportwirtschaft sowie Budget und Bestand der Armee: Die Herbstsession des Parlaments verspricht kurz vor den Wahlen lebhafte und kontroverse Debatten.

Von einem “historischen Entscheid” war die Rede, aber auch von Wendehälsen, und von fehlender Überzeugung. Es war Anfang Juni. Der Schock auf die Reaktorkatastrophe von Fukushima sass tief. Die Mehrheit des Nationalrates hatte mehreren Motionen zugestimmt und damit entschieden, die Schweiz dürfe nach Ablauf der Betriebsbewilligungen für die bestehenden keine neuen Atomkraftwerke mehr bauen.

Am 28. September wird sich der Ständerat mit dem Ausstieg befassen. Dabei zeichnet sich ein abgeschwächter Ausstieg als mögliches Szenario ab, denn eine Mehrheit der vorberatende Kommission will lediglich den Bau der aktuellen Generation der Atomkraftwerke verbieten. Die Gegner eines Totalausstiegs argumentieren, der Weg für neue Technologien müsse auch im Bereich der Kernenergie offen bleiben.

Falls sich der Ständerat für einen Ausstieg “ohne Technologieverbot” entscheidet, gehen die Motionen zurück in den Nationalrat, der lediglich die Wahl haben wird, den Änderungen des Ständerates zuzustimmen oder die Motionen ganz abzulehnen. Wenn sich der Ständerat hingegen im Sinne des Nationalrates entscheidet, ist der Ausstieg beschlossene Sache.

Mehr Eigenkapital für die Banken

Im Herbst 2008 kam die Grossbank UBS ins Schlingern. Der Staat musste mit Milliardenbeträgen eingreifen, denn die Befürchtung war gross, dass ein Konkurs der UBS weite Teile der Volkswirtschaft ernsthaft gefährden könnte.

Seither ist die so genannte Systemrelevanz, also die gefährliche Grösse der Grossbanken im Vergleich zur gesamten Volkswirtschaft ihres Standortlandes, zum Thema der Politik geworden. Unter dem Stichwort “too big to fail” befasst sich das Parlament nun mit einer Gesetzesrevision, welche den systemrelevanten Banken strengere Bedingungen bei Eigenkapital und Organisation vorschreibt.

Konkret müssen die Grossbanken ihre risikobehafteten Geschäfte in Zukunft mit einem Eigenkapital von gesamthaft 19% absichern. 10% davon müssen sie in Eigenkapital oder in Gewinnvorträgen halten, die restlichen 9% können sie in so genannten Coco-Bonds (Pflichtwandelanleihen) halten. Im Krisenfall müssten sie die Coco-Bonds in Eigenkapital umwandeln.

Der Ständerat hat die Gesetzesänderung in der Sommersession gutgeheissen. In der Zwischenzeit ist die nationalrätliche Kommission für Wirtschaft und Abgaben dem Ständerat gefolgt. Dennoch wird die Vorlage im Nationalrat zu Diskussionen führen, denn die Linke möchte das Korsett für die Banken noch enger schnellen.

Und eine Minderheit der Bürgerlichen lehnt die Vorlage entweder gänzlich ab oder möchte ein Trennbankensystem einführen, bei dem die Banken im Krisenfall das Investmentbanking von den restlichen Geschäftsbereichen abtrennen könnten.

Eingedampftes Paket

Mitte August – der Franken hatte zum Euro praktisch die Parität erreicht – trat Volkswirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann vor die Medien und kündete ein 2 Milliarden Franken starkes Hilfspaket für Wirtschaft und Tourismus an. Da in der Folge selbst der Wirtschaftsdachverband economiesuisse das Paket ablehnte, dampfte es der Bundesrat dann auf 870 Millionen ein.

Während die zuständige Kommission des Nationalrates das Paket mit Verweis auf die inzwischen von der Nationalbank angezielte Wechselkursuntergrenze ablehnt, befürwortet es die Kommission des Ständerates.

Wenn es nach der Ständeratskommission geht, sollen noch dieses Jahr 500 Millionen für Kurzarbeitszeitentschädigungen in die Arbeitslosenversicherung fliessen. Mit 212,5 Millionen sollen Forschung und Innovation gefördert , mit 100 Millionen Franken der Tourismus unterstützt werden. Das Thema wird in der kommenden Session in beiden Parlamentskammern zur Sprache kommen.

Zankapfel Armee

In den vergangenen Monaten drehte sich die Diskussion über die Zukunft der Schweizer Armee vor allem um die Fragen, wie viel diese künftig kosten und mit welchem Bestand sie ihre Aufgaben erfüllen soll. Dazu kam, ob, wann und wie viele neue Kampfflugzeuge die Armee braucht, um die in die Jahre gekommene Tiger-Flotte zu ersetzen.

In ihrem Armeebericht vom Herbst 2010 ging die Landesregierung von einem Jahres-Budget von 4,8 Milliarden Franken und einem Bestand von 80’000 Mann aus. Das führte in den Parlaments-Kommissionen zu heftigen Diskussionen.

Wie mannstark soll die Armee künftig noch sein, und wie viel soll sie kosten? – Nun wird sich der Nationalrat mit der Frage beschäftigen, nachdem sich der Ständerat im Juni auf mehr Mittel (5,1 Mrd. Franken und 100‘000 Personen) geeinigt hat, als es der bundesrätliche Vorschlag vorsah.

Damit werden sich Linke und Grüne nicht zufrieden geben. Sie wollen eine kleinere und billigere Armee. Armeefreundliche bürgerliche Nationalräte verlangen hingegen im Einklang mit der Offiziersgesellschaft eine Armee mit einem Bestand von 120’000 Soldaten.

Wahlen werfen Schatten

Auch die Sonderdebatte zur Situation im Asylbereich wird schon aufgrund der vielen Vorstösse  zu lebhaften Diskussionen und kontroversen Debatten führen.

Dazu kommt, dass es sich viele Ratsmitglieder nicht werden entgehen lassen, sich vor den Parlamentswahlen vom 23. Oktober gegenüber ihren Wählerinnen und Wählern noch einmal von ihrer aktivsten Seite zu zeigen.  Mit langen Debatten und vielen Wortmeldungen ist also bei jedem Thema zu rechnen.

Der Nationalrat ist die

(grosse)  Kammer, die das Schweizervolk vertritt. Er zählt 200 Mitglieder (Nationalrätinnen und -räte).

Die Sitze sind unter den Kantonen proportional zu ihrer Bevölkerung aufgeteilt.

Die Kantone mit einer geringeren Bevölkerungszahl haben von Amtes wegen Anspruch auf einen Sitz. Die Kantone mit den meisten Volksvertretern sind Zürich (34), Bern (26) und Waadt (18).

Der Ständerat (die kleine Kammer) vertritt die Kantone. Unabhängig von Grösse und Bevölkerungszahl hat jeder Kanton Anrecht auf zwei Sitze, jeder Halbkanton auf einen Sitz, was ein Total von 46 Sitzen ergibt.

Beide Kammern haben die

gleiche Entscheidungsgewalt.

Damit ein Gesetz verabschiedet werden kann, braucht es die Zustimmung beider Kammern.

In der Schweiz hat die Regierung keine Möglichkeit, das Parlament aufzulösen. 

Das Parlament hat aber auch keine Möglichkeit, die Bundesräte während der Legislatur abzuwählen – ausser bei gravierenden Fällen (kriminelles Vergehen, Verrat usw.).

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