Warum die Schweiz zögert, russische Vermögen freizugeben

Sowohl in den USA als auch in Europa wird die Forderung immer lauter, eingefrorene russische Vermögen zur Finanzierung der Kriegs- und Wiederaufbaukosten der Ukraine zu verwenden. Die Schweiz steht in dieser Hinsicht unter Druck. Doch die Situation ist kompliziert.
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine dauert schon mehr als drei Jahre. Und ein Ende des Konflikts ist nicht in Sicht.
Um die starke finanzielle Belastung durch den Krieg einzudämmen, ist die neue US-Regierung unter Präsident Donald Trump bei der Bereitstellung militärischer und sonstiger Hilfe für Kiew wesentlich zurückhaltender geworden als die Vorgängerregierung.
Die vorübergehende Einstellung der Militärhilfe durch die USA im März 2025 hat Europa dazu veranlasst, die eigene Unterstützung für die Ukraine zu verstärken.
Inzwischen mehren sich die Forderungen einiger europäischer Staats- und Regierungschefs sowie von US-Präsident Trump, das eingefrorene russische Staatsvermögen zur Finanzierung der Kriegsanstrengungen der Ukraine zu verwenden.
Die EU, in deren Mitgliedländern etwa 200 bis 300 Milliarden Euro an Bargeld der russischen Zentralbank lagern, verwendet bereits die Zinserträge aus diesen Vermögenswerten zur Unterstützung der Ukraine.
Ende März forderte der spanische Aussenminister die EU auf, rechtliche Möglichkeiten zu prüfen, um auch die beschlagnahmten Vermögenswerte selbst zur Unterstützung der ukrainischen Verteidigungsanstrengungen zu verwenden.
Er äusserte sich im Vorfeld eines Treffens am 31. März, an dem die Aussenminister der G5+ teilnahmen, einer neuen Gruppe, die als Reaktion auf die veränderte US-Politik gegenüber der Ukraine und Europa gegründet wurde. Ihr gehören Deutschland, Frankreich, Italien, Polen, Spanien, das Vereinigte Königreich sowie die EU an.
Ambivalente Schweiz
Die Schweiz als traditionell neutrales Land reagierte unschlüssig auf den Ukrainekrieg. Sie zögerte zunächst mit ihrer Reaktion auf den Einmarsch Russlands in die Ukraine, übernahm aber später verschiedene EU-Sanktionen gegen Russland.
Als die EU im vergangenen Jahr beschloss, 1,5 Milliarden Euro an Zinserträgen aus eingefrorenen russischen Staatsgeldern für die Ukraine bereitzustellen, folgte die Schweiz diesem Beispiel indes nicht.
Der Grund dafür ist, dass sie sowohl an nationale als auch an internationale Verpflichtungen gebunden ist, was ihre Handlungsfähigkeit einschränkt.
Der Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis betont, dass es keine Rechtsgrundlage gibt, die es der Regierung erlauben würde, die Guthaben dauerhaft zu beschlagnahmen.
Zudem würde die Schweiz Gefahr laufen, ihre internationale Glaubwürdigkeit zu verlieren, wenn sie sich nicht an das Gesetz hält. Die Angelegenheit löste auch eine hitzige Debatte über den neutralen Status der Schweiz aus.
Anfang 2024 verabschiedete die EU Vorschriften, die es dem zentralen Wertpapierdepot eines einzelnen Mitgliedstaats erlauben, bei der jeweiligen Aufsichtsbehörde die Erlaubnis zur Freigabe von Nettogewinnen aus eingefrorenen russischen Vermögenswerten zu beantragen.
Zentraldepots sind nationale oder internationale Finanzinstitute, welche die «Abwicklung» (Eigentumsübertragung) von Wertpapieren wie Aktien und Anleihen verwalten.
Das belgische Wertpapierdepot EuroclearExterner Link, bei dem die meisten eingefrorenen Guthaben der russischen Zentralbank lagern, hat sich beispielsweise bereit erklärt, im Jahr 2024 genau vier Milliarden Euro aus nicht eingeplanten Gewinnen («windfall profits») in einen speziellen Ukraine-Fonds einzuzahlen.
Im Juli erklärte die Schweizer Regierung ihrerseits, dass sie nicht in der Lage sei, «aussergewöhnliche Einnahmen in Zusammenhang mit den Geldern der russischen Zentralbank zu erzielen». Dies sei eine Folge der spezifischen Schweizer Rahmenbedingungen.
7,45 Milliarden Franken an russischem Staatsvermögen
Bei einem kurzen Briefing letzte Woche gab das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) bekannt, dass sich die in der Schweiz eingefrorenen russischen Staatsgelder auf 7,45 Milliarden Franken belaufen.
Seco-Sprecher Fabian Maienfisch erklärte auf Nachfrage gegenüber SWI swissinfo.ch, dass das Zentraldepot in der Schweiz im Gegensatz zur EU «keine Gelder der russischen Zentralbank hält, was bedeutet, dass keine ausserordentlichen Erträge generiert werden».
Die Vermögenswerte werden stattdessen als liquide Mittel von Geschäftsbanken gehalten und generieren daher laut dem Seco-Sprecher keine unerwarteten Gewinne.

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Wo steht die Schweiz in Sachen eingefrorener russischer Gelder?
Diese Einschätzung findet sich auch in der Antwort des Bundesrats auf eine entsprechende FrageExterner Link der sozialdemokratischen Nationalrätin Céline Widmer vom März 2025.
Der Schweizer Gesetzgeber hat jedoch gewisse Schritte unternommen, welche die Möglichkeit eröffnen, eingefrorene russische Vermögenswerte zum Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg zu verwenden.
Im März 2024 stimmte der Ständerat (Kleine Parlamentskammer) einer Forderung zu, Grundlagen für einen Reparationsmechanismus zu prüfen, um eingefrorene staatliche GelderExterner Link eines Aggressors an den attackierten Staat überweisen zu können.
Zuvor hatte bereits der Nationalrat dem Ansinnen zugstimmt. Der Entscheid verärgerte Moskau. Das russische Aussenministerium bestellte die Schweizer Botschafterin einExterner Link, um gegen den Parlamentsbeschluss zu protestieren, und drohte mit Vergeltungsmassnahmen, sollte er umgesetzt werden.
Trotz der international immer lauter werdenden Forderung, die eingefrorenen Vermögenswerte des russischen Staats zur Unterstützung der Ukraine zu verwenden, hat sich die Schweizer Regierung bisher nicht öffentlich zu einem entsprechenden Vorgehen bekannt.
Auf die Frage von SWI swissinfo.ch, ob die Schweizer Regierung einen solchen Schritt in Erwägung ziehe, sagte ein Seco-Vertreter nur, dass die Diskussionen in der EU zu diesem Thema «aufmerksam verfolgt werden».
Die Schweiz beobachte im Weiteren die Debatte innerhalb der EU über die Freigabe grösserer Summen eingefrorener russischer Staatsgelder. Das Ergebnis dieser Diskussion werde abgewartet, bevor über eigene politische Schritte entschieden werde.

Freigabe von Geldern birgt Risiken
Trotz der vielen Forderungen innerhalb der EU, das blockierte russische Staatsvermögen zu beschlagnahmen und zur Unterstützung der Ukraine zu verwenden, gibt es auch Bedenken, dass ein solcher Schritt einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen könnte, namentlich die Verwendung des Vermögens selbst und nicht nur der damit erzielten Gewinne.
Die Präsidentin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde, hat beispielsweise davor gewarnt, dass ein solches Vorgehen das Vertrauen in westliche Währungen kompromittieren und das Vertrauen in die Sicherheit von in Euro oder Dollar gehaltenen Reserven untergraben könnte.
Andere Stimmen warnen vor möglichen rechtlichen Konsequenzen sowie vor direkten und indirekten Gegenmassnahmen des KremlsExterner Link.
Zum Abschluss des G5+-Treffens in Madrid gaben die Aussenminister eine Erklärung ab, wonach die russischen Guthaben bis zur Beendigung des Kriegs in der Ukraine blockiert bleiben sollen.
Erst dann sollen sie zur Entschädigung des Landes für die durch die russischen Angriffe verursachten Schäden verwendet werden. Damit wurde die Forderung Spaniens, die Vermögen als «Vorschuss für Kriegsreparationen» zu verwenden, de facto ausgebremst.
Dmytro Marchukov, Experte für grenzüberschreitende Rechtsstreitigkeiten bei der Kiewer Anwaltskanzlei Integrites, ist der Ansicht, dass die in Europa eingefrorenen russischen Zentralbankguthaben in Höhe von 200 bis 300 Milliarden Euro höher sind als die durch den Krieg verursachten Schäden.
Seiner Meinung nach sollten «legale Mittel» gefunden werden, um die Freigabe des Geldes zur Unterstützung des Wiederaufbaus der Ukraine zu ermöglichen.
Aber selbst wenn solche Wege gefunden werden sollten, würde es einige Zeit dauern, bis die Gelder in der Ukraine ankämen, sagt Marchukov, der Mitte März 2025 an einer Konferenz über Betrug, Vermögensverfolgung und -einziehung in Genf teilnahm (19th Edition Fraud, Asset Tracing & Recovery Geneva).
«Hätten Sie mich vor drei Jahren gefragt, hätte ich vielleicht gesagt, dass es mehrere Monate dauern würde, da es damals genügend politischen Willen für eine Unterstützung der Ukraine gab», so seine Einschätzung.
Aber jetzt werde es wohl Jahre dauern, da der politische Wille schwächer werde. «Der Angreifer Russland wird nicht mehr dafür kritisiert, dass er Wohnblocks bombardiert, weil sich die Wahrnehmung ausgebreitet hat, dass er Frieden will. Im weltweiten Szenario sind Aktien und Zölle wichtiger geworden als der internationale Frieden», sagt Marchukov.
«Damit die Vermögenswerte an die Ukraine freigegeben werden können, müssen wir zumindest an den Status quo ante zurückkehren. Doch wir gehen im Moment in die genau entgegengesetzte Richtung.»
Editiert von Nerys Avery/vm, Übertragung aus dem Englischen:
Gerhard Lob/raf

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