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Bahnhof Cornavin – Brachland im Umbruch

Alle Verkehrsmittel kommen in Cornavin zusammen. Keystone

Der Hauptbahnhof von Genf mausert sich unter der Ägide von "RailCity", dem visionären Bahnhofs-Konzept der SBB.

Auch wenn der Vorplatz noch zu wünschen übriglässt, so geben die ersten Veränderungen im Bahnhof doch Anlass zur Hoffnung.

“Die ganze Falschheit der zeitgenössischen Kunst ist da mit ihrer Hingabe an das Banale, den Müll, die Mittelmässigkeit als Wert und als Ideologie.”

Könnte diese Betrachtung des französischen Essayisten Jean Baudrillard wohl als Kommentar zum neuen Bahnhofplatz von Cornavin dienen?

Vielleicht, denn ein unvoreingenommener Tourist könnte sich diesen chaotischen Platz wirklich als eine grosse Installation vorstellen.

Urbanes Schachspiel

Das Projekt, bald fertiggestellt, ist jedoch ein einziges urbanistisches Schachspiel, wie viele Genfer meinen. Verschiedene Interessenkonflikte zwischen Gemeinde und Kanton wirkten hier als Drahtzieher der Architektur.

Auf dem Platz laufen eine neue Tramlinie, die meisten Buslinien und zwei Hauptachsen der Stadt zusammen. Doch der Platz ist auch für die weitere Entwicklung des Bahnhofs Cornavin wichtig.

“Die Bahnhöfe dienen nicht mehr nur dazu, dass die Leute von einem Ort zum anderen gelangen. Sie werden immer mehr zur Schnittstelle zwischen verschiedenen Mobilitätsformen”, sagt die Architektur-Professorin Inès Lamunière, die den ersten Umbau des Bahnhofs geleitet hat.

Der Bahnhof Cornavin sieht die Pendler, die auf dem Weg zur Arbeit von der Bahn auf den Bus umsteigen oder auf dem Heimweg ihr Fahrrad aufschliessen.

Er sieht die Studenten, die mit dem TGV unterwegs nach Paris sind und die Ferienreisenden auf dem Weg zum Flughafen Genf Cointrin.

Neue Zeiten

Vorbei ist die Epoche von Cornavin als Endstation für Weitgereiste, als die Angekommenen im berühmten Bahnhof-Buffet essen gingen. Vorbei die Zeit, als die Arbeiter durch den Bahnhof ihrer Arbeit zueilten.

Der Genfer Hauptbahnhof hat sich heute zu einem grossen Kommunikationsnetz gewandelt. Und das im wahrsten Sinne des Wortes.

So beheimatet der Westflügel Cornavins den Hauptsitz von “Le Temps”. Diese Zeitung, Ende der 90er-Jahre gegründet, ist heute in weiteren Bahnhöfen der Schweiz präsent.

Stadt im Bahnhof

Besitzer von Cornavin wie auch der anderen Bahnhöfe sind die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB), eine Ausnahme in Europa. Diese wollen nun ihr “Brachland der Mobilität”, wie Lamunière es nennt, revitalisieren.

Daher setzen sie ihr Konzept “RailCity” in den grossen Bahnhöfen der Schweiz um. “Wir wollen die Bahnhöfe nicht nur für Geschäfte, sondern auch für andere Dienstleitungen öffnen”, sagt Hans Zimmermann, Verantwortlicher für RailCity.

“In den Bahnhöfen von Zürich und Luzern beispielsweise haben wir jetzt einen medizinischen Bereitschaftsdienst. Dies ist auch für Cornavin geplant.”

Jahrzehnt des Wandels

Eine erste grosse Erneuerung hat der Bahnhof aus den 20er-Jahren mit der Renovation des Westflügels schon hinter sich. Die zweite ist mit der Sanierung des Ostflügels für Ende 2006 geplant.

Was in die neuen Räume kommen soll, ist noch nicht bestimmt. Eine gute Gelegenheit für neue Ideen, findet Inès Lamunière.

Einige Bahnhöfe haben durch das Facelifting und den Anschluss ans europäische Bahnnetz zu einer neuen Jugend gefunden. Nun soll auch Cornavin von dieser Entwicklung profitieren.

Nach Zürich und Bern will auch Genf ein eigenes S-Bahn-Netz ausbauen, mit einer Verbindung zur französischen Nachbarstadt Annemasse.

Infrastrukturen, die für die Entwicklung der ganzen Stadt Genf von zentraler Bedeutung sind. “Die Heimarbeit bleibt auch in Zeiten des Internet die Ausnahme”, betont Lamunière, die auch das Labor für Architektur und urbane Mobilität LAMU in Lausanne leitet.

“Die Menschen müssen sich immer noch fortbewegen, um zu ihrem Arbeitsplatz zu kommen.”

Neue Bedürfnisse

Gleichzeitig bestimmen die Erreichbarkeit einer Stadt und ihre Fähigkeit, rasch auf die Bedürfnisse der globalen Wirtschaft zu reagieren, ob sie ein Zentrum bleibt oder an den Rand gedrängt wird.

Zur Zeit hält Genf seine Stellung als regionales Zentrum. Und Cornavin wird weiterhin täglich von rund 40’000 Personen benutzt.

“Doch deren Erwartungen verändern sich. Man könnte sich also auch vorstellen, dass Cornavin einmal eine Kinderkrippe oder Schulungsräume beherbergen wird”, meint Lamunière.

Mit dem Konzept “RailCity” sind die SBB bereit, um auf solche Bedürfnisse zu reagieren.

Bleibt noch, die lokalen Kräfte, Stadt und Kanton, zu überzeugen, ihre internen Querelen beizulegen. Dann könnte auch der Platz vor dem Bahnhof und damit die ganze Stadt von der Entwicklung profitieren.

swissinfo, Frédéric Burnand, Genf
(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

Der Bahnhof Cornavin in Zahlen:
40’000 Passagiere pro Tag
230 Züge (170 interregional, 50 regional)
92 Mio. Fr. Umsatz pro Jahr (Sektor Reisende)
Auf dem 4. Platz unter den Schweizer Bahnhöfen hinter Zürich, Bern und Basel.

Im Juli und August werden die SRG-Radioprogramme ihre Hörer aus acht Schweizer Bahnhöfen begrüssen.

Jeweils am Freitag (10 – 20 Uhr) und Samstag (9 – 15 Uhr) wird live aus Zürich, Basel, Bern, Chur, Freiburg, Genf, Locarno und Luzern gesendet.

swissinfo stellt in loser Folge verschiedene Schweizer Bahnhöfe vor.

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