Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Der Schweizer, der Seife in Kunst verwandelt

Three carved tablets of soap.
Links; «Imperial Leather» - Act 1, No. 1. Mitte; «Crusader» - Act 1, No. 14. Rechts; «Clear Essence» - Act 2, No. 7. Studio Beat Zoderer, Courtesy: Bartha Contemporary, London

Beat Zoderer hortete Seifen – ja, Seifen – als Material für seine Kunst. Er entdeckte sie als Spiegel der multiethnischen Metropole London und Spiegel der englischen Kolonialgeschichte. Titel seines neuen Projektes: "London Soap Opera".

Der Weg zu Beat Zoderers temporärem Atelier in London führt vorbei an Jackfrüchten und Kaftans, Papayas und Kurtas, Datteln und Djellabas. Vom sinnebetörenden Warenangebot lässt sich die Zusammensetzung der Einwohnerschaft leicht ableiten: In Tower Hamlets im Londoner East End leben mehr Bangladeschi (32%) als weisse Brit:innen (31%), und zu ihnen gesellen sich Pakistani und Somalierinnen sowie Einwanderer:innen und deren Nachfahren aus Indien und der Karibik, Ghana und Kenia.

Über 50 Moscheen finden sich hier, in indischen Restaurants wird Halal, also nach muslimischen Vorschriften gekocht; nur Mode und Kosmetik folgen neben züchtigen muslimischen Regeln auch den Schönheitsidealen der hinduistisch-indischen, karibischen, afrikanischen und westlichen Welt.

Er sei hier “irgendwo zwischen Karachi und Dhaka und Bombay” geraten, flachst Zoderer, als er die Tür zu seinem Atelier in der Smithy Street öffnet. Die Zuger Kulturstiftung Landis & Gyr hat es ihm im Rahmen einer Artists residency zur Verfügung gestellt. Vom multi-ethnischen Grossstadtgewusel vor seiner Haustür ist er sichtlich stimuliert.

Ansicht der Whitechapel Road, Tower Hamlets in London
Nathaniel Noir / Alamy Stock Photo

Besonders etwas erregte seine Aufmerksamkeit: die riesige Auswahl an Seifen. “Ich habe noch nie eine solche Vielfalt gesehen wie hier”, sagt er. Zwischen Whitechapel und Bromley, Banglatown und Bethnal Green finden sich die Seifenblöcke aus pflanzlichen und tierischen Fetten und Duftstoffen in allen Farben und Formen. Besonders in einem Beauty Salon aber in Mile End sei er zwischen Nagelsets und künstlichen Haarteilen auf eine schier unerschöpfliche Auswahl gestossen. “Mich interessierte die Konsistenz und Farbigkeit”, sagt er. “Ich liess mich vom Material leiten.”

Die Basis für sein neuestes Kunstprojekt “The London Soap Opera” war gelegt.

Dass einer, der seine Schweizer Heimat, Hort der Sauberkeit und Ordnung, für einen der chaotischeren Stadtteile Londons verlässt und dort ausgerechnet Seifen hortet, hat nicht nur dem indischen Ladenbesitzer in Mile End die eine oder andere ironische Bemerkung entlockt. Für Zoderer war der Besuch in dessen Drogerie aber nur, was für andere Künstler der Gang zum Künstlerbedarfgeschäft ist. Die Farbpalette liess jedenfalls beim Künstler, für den Farbe ein zentraler Bestandteil seines Werks ist, keinen Wunsch offen.

Beat Zoderer
Die Seifen installiert im “White Cube” der Galerie: Beat Zoderer an der Vernissage seiner “London Soap Opera” im Juli in der Galerie Bartha Contemporary in Notting Hill. Brigitte Ulmer

Was der Alltag anschwemmt

Zoderers Kunst entzündet sich schon seit den 1980er-Jahren an Alltagsmaterialien. In seinen Objekten und Installationen schwingen auch sozial-kritische Töne mit. Der 67-Jährige gelernte Hochbauzeichner, der wegen seiner auf Farbe, Form und Konstellationen basierenden Kunst immer wieder als Nachfahre der Zürcher Konkreten gehandelt wird – jener Kunstrichtung, die sich partout von der Wirklichkeit lossagen wollte –, arbeitet im Gegensatz zu ihnen eben mit dem, was die Alltagswelt anschwemmt. Holzbalken und Metalllatten. Aktenhüllen aus Plastik und Ringlochordner.

Mit letzterem verwies er augenzwinkernd auf des Schweizers Liebe für Ordnung. 1984 kreierte er ausserdem seinen “Billig Bill”, persiflierte dabei ein Ausstellungsplakat des Übervaters der Konkreten Kunst, indem er die vier Dreiecke, die Bills akkurate Quadratmalerei bildeten, [LMP(1] aus Holz schnitt und einfach nach aussen klappte. So strebt Zoderer das an, was er eine “Demokratie der Materialien” nennt.

Von grün, gelb, weiss, rot, blau zu schwarz, transparent oder opak, monochrom oder marmoriert, von oval, rechteckig über quadratisch bis kreisrund: Die Seifen, die Zoderer von seinen Explorationen heimbrachte, schnitzte er in der uralten Kunst der Glyptik (Steinschnitzerei) und in geradezu meditativer Arbeit zu Miniatur-Skulpturen. Sein Skizzenbuch, das offen auf dem Tisch liegt, enthält Dutzende kleiner Formstudien: Sie waren ihm Ausgangspunkt, doch er interpretierte frei.

Zigzag, Halbkreise, Kreise, Dreiecke, Kuben, konkave und konvexe Formen, Minilabyrinthe, konzentrische Rosetten wie Wüstenrosen: In Reih und Glied hängt nun seine “London Soap Opera”, eine 72-teilige Reihe aus Miniaturreliefs, in seiner Londoner Galerie Bartha Contemporary in Notting Hill. Er habe so etwas wie eine Mini-Retrospektive seines Formenvokabulars kreiert, sagt sein langjähriger Galerist, der Schweizer Niklas von Bartha.

Beat Zoderer schnitzt Seifen in seinem Atelier
Zoderer schnitzt die Seifen ganz nach den Regeln der traditionellen Steinschneidekunst, inspierieren lässt er sich vom islamischen Formenvokabular, wie er es auf seinen Reisen kennengelernt hat. Brigitte Ulmer

Die Seifen legen in der postkolonialen Metropole ein Thema von spannungsreicher kultur-historischer Tragweite offen. In ihrer heutigen Form im 7. Jahrhundert von Arabern erfunden, aus erhitzten Fetten, Ölen und alkalischen Salzen hergestellt, im Mittelalter verpönt und dann wieder entdeckt und für den Massengebrauch produziert und beworben, sind Seifen heute ein Spiegel der multiethnischen 9-Millionenkapitale und Objekte, denen kulturelle und soziale Ideale eingeschrieben sind.

Es gibt etwa die “Fair & White” mit Olivenöl mit melatoninreduzierenden Eigenschaften, die den dunklen Teint von Frauen (und Männern) aufhellt, die dem westlichen Schönheitsideal nacheifern, oder die “Crusader”, die dank antiseptischen Eigenschaften Entzündungen und Furunkel verhindern soll. Es gibt Seifen mit Arganöl, mit Shea-Butter oder Papaya-Enzymen oder die Aleppo-Seife aus Oliven- und Lorbeeröl. Die Seifen tragen aber auch den Duft der jeweiligen Heimat – Maghreb, Westafrika, Philippinen, Syrien – ins Exil. Seifen sind Träger von Erinnerung.

Den “Wilden” mit Seife zivilisieren

Seifen sind aber auch Spiegel und Dokument der Geschichte der einstigen Kolonialmacht und ihres Selbstbildes. “Soap is Civilization” hiess einst ein Slogan der britischen Firma Unilever. Der Erfolg der englischen Gebrüder Level, die 1885 die Seifenfabrik namens Lever Brothers in Nordwestengland gegründet hatten, war eng mit der kolonialen Ausbeutung verbunden.

1908 betrieben sie ihre erste eigene koloniale Ölpalmenplantage im Kongo, die der Seifenproduktion diente. Denn moderne Seifen beruhten auf der innovativen Verwendung von Palmöl statt Talg (Tierfett). Erst Kolonialisierung und Ausbeutung ermöglichte den europäischen Zugang zur Wunderzutat – und damit ein florierendes Geschäft.

1800s advert for soap, illustrating the Victorian attitude to race issues
Seifenwerbung aus den 1800er Jahren, die die viktorianische Einstellung zu Rassenfragen veranschaulicht. Alamy Stock Photo

Zuvor schon, in der viktorianischen Gesellschaft, war Seife zum Fetischobjekt mit geradezu mirakulösen Eigenschaften mutiert. Die Produzenten von ‘Pears’, die seit 1807 in der Nähe der Oxford Street in London ihre Seifen als erstes Massenprodukt herstellten, bewarben den zivilisatorischen Akt des Waschens. Ihr Werbespruch: “Der Konsum von Seife ist ein Zeichen von Reichtum, Zivilisation, Gesundheit und Reinheit des Volkes.”

Es ging um nichts weniger als darum, den “Wilden” mit Seife zu zivilisieren. Zeitschriftreklamen zeigen, wie Seifen kleine schwarze Kinder weisswaschen. Selbst Rudyard Kiplings ideologisch unterlegtes Gedicht (“The White Men’s Burden”) wurde bemüht, und Seifen wurden in Zeitschriftenanzeigen als Zeichen evolutionärer Überlegenheit Grossbritanniens global vermittelt: Das koloniale Subjekt hatte sich den Hygiene-Regeln der Kolonialmacht zu unterwerfen, natürlich nur zu ihrem Guten.

White Man s Burden is to teach cleanliness described in a Pears Soap advertisement 1890s
North Wind Picture Archives / Alamy Stock Photo

Zum reinigenden Versprechen gehört auch das Verpackungsdesign. Zoderer hat die Seifenschachteln auseinandergefaltet und fein säuberlich auf Papier geklebt, wo sie wie konstruktive Kunstwerke wirken. Ausserdem führte er eine Liste zu Namen und Ingredienzen der 72 Seifen. Sie heissen “Eden” und “Madam Ranee”, “Faith in Nature”  und “Clear Essence”, und sie reflektieren in ihren Zusammensetzungen eine erstaunliche Breite an Traditionen, Vorlieben.

Viele der exotischeren Düfte sind Zoderer nicht unbekannt, Weihrauch und Myrrhe etwa. Sie erinnern ihn an seine Wanderjahre, als er mit dem Bus Syrien, Afghanistan, Iran, Irak bereiste. Aber mehr als die Düfte ist ihm das islamische Formenvokabular hängengeblieben. Die Kalligrafie, die organische Form der Arabesken, die Architektur der Moscheen, vor allem aber die Nicht-Darstellung von Allah haben zu Zoderers Verständnis abstrakter Formen beigetragen.

Am Sufismus faszinierte ihn das Miteinandergehen von Ekstase und Ordnung. “Der Islam, und nicht die Konkreten, haben mich zur Abstraktion gebracht”, sagt er. Auch deshalb fühlt er sich in der lebendigen Unordnung des mehrheitlich muslimisch geprägten Londoner East End überhaupt nicht fremd. Auf seinen Reisen durch Indien habe er gelernt, wie man aus allem etwas machen kann, sagt Zoderer.

Auch aus Seifen.

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft