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Bedeutung der Fünften Schweiz wird unterschätzt

Rudolf Wyder ASO

Die Teilnahme der Fünften Schweiz am politischen Leben hat sich in 20 Jahren verzehnfacht. Das politische Gewicht der Auslandschweizer werde aber nicht genügend anerkannt, sagt der Direktor der Auslandschweizer-Organisation.

Als im Jahr 1992 das briefliche Abstimmungs- und Wahlrecht eingeführt wurde, nahmen nur 14’000 Auslandschweizer an Wahlen und Abstimmungen in ihrer Heimat teil. Seither ist die Beteiligung stark angestiegen.

2010 waren 135’877 in den Stimmregistern eingetragen. Im letzten Jahr gab es einen Anstieg um 4,5 Prozent.

Zu den eidgenössischen Wahlen am 23. Oktober 2011 ist mit einem erneuten Beteiligungszuwachs zu rechnen. Auch wenn die Auslandschweizer immer besser in die nationale Politik integriert sind, wird ihre Stimme in Bundesbern aber zu wenig wahrgenommen.

Diese Meinung vertritt Rudolf Wyder, Direktor der Auslandschweizer-Organisation ASO, im Interview mit swissinfo.ch.

swissinfo.ch: Wie erklären Sie sich das steigende Interesse der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer an der nationalen Politik?

Rudolf Wyder: Die Schweizer verfügen traditionell über eine Reihe politischer Rechte und nutzen diese auch intensiv. Für viele Auslandschweizer stellt die Ausübung der politischen Rechte einen Teil ihrer nationalen Identität dar, auf die sie auch im Ausland nicht verzichten wollen.

Die steigende Teilnahme der Fünften Schweiz am politischen Leben ihrer Heimat spiegelt auch eine neue internationale Mobilität.

Während früher viele Schweizerinenn und Schweizer auf der Suche nach einem besseren Leben auswanderten, häufig für immer, halten sich heute viele nur vorübergehend im Ausland auf; für die Arbeit, für das Studium oder aus anderen Gründen. Die Schweizer sind heute sehr mobil.

Die Fluktuation zwischen Aus- und Inlandschweizern ist hoch. Wir beobachten ein ständiges Kommen und Gehen. Dies erklärt das steigende Interesse der Auslandschweizer an der nationalen Politik.

swissinfo.ch: Die Zahl der in Stimmregister eingetragenen Auslandschweizer hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Gibt es Grenzen des Wachstums?

R.W.: Das ist schwierig zu sagen. Als 1992 das briefliche Stimm- und Wahlrecht eingeführt wurde, dachten wir an maximal 20’000 bis 30’000 Auslandschweizer, die davon Gebrauch machen würden. Heute sind wir bei über 135’000.

Ein neuerlicher Wachstumsschub könnte mit der Einführung der elektronischen Stimmabgabe erfolgen, auf die wir seit Jahren warten.

Denn viele Auslandschweizer können auch heute von ihrem Stimm- und Wahlrecht nicht Gebrauch machen, weil das postalisch zugestellte Wahlmaterial entweder zu spät bei ihnen eintrifft oder umgekehrt die ausgefüllten Wahl- oder Stimmzettel zu spät die Staatskanzleien erreichen.

Die ASO wird auch künftig die Auslandschweizer animieren, von ihren politischen Rechten Gebrauch zu machen. Nur so können Regierung und Parlament dazu gezwungen werden, die Belange der Fünften Schweiz stärker zu berücksichtigen. Immerhin stellen die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer zehn Prozent der Gesamtbevölkerung dar.

swissinfo.ch: Wie viele der in Stimmregister eingetragenen Auslandschweizer nehmen tatsächlich an Eidgenössischen Wahlen oder Abstimmungen teil?

R.W.: Die Beteiligung der Auslandschweizer entspricht ungefähr der Beteiligung in der Schweiz. Sie hängt aber sehr vom Thema ab.

Es gibt Themen, die für Auslandschweizer sehr wichtig sind, beispielsweise der UNO-Beitritt oder die Personenfreizügigkeit in den bilateralen Verträgen mit der EU.

Bei diesen Abstimmungen liegt die Beteiligung unter den Auslandschweizern sogar höher als in der Eidgenossenschaft.

swissinfo.ch: Unterscheidet sich das Abstimungsverhalten der Auslandschweizer in politischer Hinsicht von demjenigen ihrer Landesleute in der Schweiz?

R.W.: Manchmal gibt es Unterschiede. Ganz generell lässt sich festhalten, dass das Abstimmungsverhalten der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer demjenigen der Bevölkerung urbaner Räume oder in Grenzgebieten der Schweiz ähnelt, wo eine Sensibilität zu grenzüberschreitenden Themen vorhanden ist.

Meiner Meinung nach spiegelt sich im Votum der Auslandschweizer eine gewisse Öffnung gegenüber der Welt.

swissinfo.ch: Hat das Votum der Fünften Schweiz bereits Abstimmungen entschieden?

R.W.: Ja, wahrscheinlich gab es in den letzten Jahren sogar zwei Abstimmungen, in denen die Stimmen der Auslandschweizer den Ausschlag gaben. In einem Fall handelt es sich um eine Abstimmung aus dem Jahr 2002, als das Schweizer Volk mit hauchdünner Mehrheit die Verschärfung des Asylrechts ablehnte.

2009 wurde die Einführung des biometrischen Passes mit gerade mal 5600 Stimmen Unterschied angenommen –  dank einer massiven Unterstützung durch die Fünfte Schweiz.

swissinfo.ch: Anerkennen Parlament und Regierung das politische Gewicht der Auslandschweizer in ausreichendem Mass?

R.W.: Die Fünfte Schweiz ist heute in der nationalen Politik wesentlich präsenter als noch vor 20 Jahren. Doch die Stimme der Auslandschweizer wird auf eidgenössischer Ebene wenig gehört.

Dies zeigen eine Reihe von Entscheidungen der letzten Legislaturperiode, beispielsweise die Einsparungen bei der Schweizer Revue.

Viele Politiker sind sich immer noch nicht bewusst, dass die Gemeinschaft der Auslandschweizer über einen Schatz an Wissen und Erfahrungen verfügt, der von der Schweiz besser genutzt werden könnte.

Ohne das von der Schweizer Diaspora im Ausland aufgebaute internationale Netzwerk an Kontakten wäre die Schweiz wirtschaftlich, politisch und kulturell ärmer.

Diese Wichtigkeit wird in einem Bericht der Regierung aus dem Vorjahr anerkannt. Der Bericht hat jedoch zugleich das Fehlen einer kohärenten und koordinierten Politik in Bezug auf die Fünfte Schweiz herausgearbeitet.

Namentlich fehlt eine einheitliche gesetzliche Grundlage für viele Fragen, welche die Auslandschweizer betreffen. Heute sind zu viele Departemente und Ämter involviert.

Fast 700‘000 Schweizer Bürger leben im Ausland

der Anstieg pro Jahr liegt bei rund 2 Prozent.

Die Gesamtzahl der Auslandschweizer entspricht zirka 10% der Schweizer Bevölkerung.

Die 1916 gegründete Auslandschweizer-Organisation (ASO) repräsentiert die Interessen der im Ausland lebenden Schweizer und wird von den Behörden als offizielles Sprachrohr der Fünften Schweiz anerkannt.

Der Auslandschweizerrat (ASR) wird häufig als Parlament der Fünften Schweiz bezeichnet.

Der ASR tagt zwei Mal im Jahr: Einmal im Frühjahr und einmal im Sommer  – zeitgleich mit dem Kongress der ASO.

Der Kongress der Auslandschweizer stellt die Jahresversammlung der im Ausland lebenden Schweizerinnen und Schweizer dar.

Er ist das Forum, um wichtige Themen zur Fünften Schweiz zu debattieren, Informationen auszutauschen und Vertreter von Behörden und aus der Politik zu treffen.

Die Auslandschweizer können seit 1977 an eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen teilnehmen.

Seit 1992 haben Auslandschweizer das briefliche Stimm- und Wahlrecht bei eidgenössischen Vorlagen.

Um an Abstimmungen und Wahlen teilzunehmen, müssen Auslandschweizer ins Stimmregister eingeschrieben sein.

Die Stimme zählt entweder in der letzten Wohngemeinde in der Schweiz oder am Schweizer Heimatort.

Seit 1992 hat die politische Beteiligung der Auslandschweizer stetig zugenommen.

Ende 2010 waren 135‘877 Auslandschweizer in Stimmregistern eingetragen.

Bei den letzten eidgenössischen Wahlen von 2007 kandidierten 44 Auslandschweizer für den Nationalrat. Keiner dieser Kandidaten wurde gewählt.

Übertragen aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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