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Beziehung Türkei-Schweiz auf neuem Tiefpunkt

Der Genozidleugner, der Türke Doğu Perinçek, bei einer Demonstration am 24. Juli in Lausanne. Keystone

Die Türkei solle den Völkermord an den Armeniern anerkennen und mit Erpressungen aufhören, verlangt Nationalrat Erwin Jutzet in einem Interview.

Unterdessen musste sich der Schweizer Botschafter in Ankara wegen Ermittlungen gegen einen türkischen Politiker scharfer Kritik erwehren.

Mit seiner Forderung, die Türkei solle den Völkermord an den Armeniern anerkennen, heizt der Präsident der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrates, Erwin Jutzet, den seit Längerem gärenden Zwist zwischen der Schweiz und der Türkei an.

In einem Interview mit dem “Tages Anzeiger” vom Mittwoch verlangt er weiter, die Schweiz dürfe keine Rücksicht auf erschwerte Bedingungen mit der Türkei nehmen.

Es sei an der Türkei, einen Schritt zu tun und “nicht immer die Beleidigte zu spielen und mit Erpressungen zu kommen”, meinte Jutzet weiter.

Folgen für türkischen EU-Beitritt?

Durch die Leugnung des Genozids sieht Jutzet für die Türkei auch mögliche Folgen für ihren angestrebten EU-Beitritt. Ankara müsse über die Bücher gehen, ansonsten werde der Türkei die Annäherung an die EU nicht gelingen.

Wenn die Schweiz ihr den Rücken zukehre, “wäre es ein schlechtes Zeichen für einen EU-Beitritt”, fügte Jutzet an.

Scharfe Kritik aus Ankara

Der Schweizer Botschafter in Ankara, Walter Gyger, hat sich am Mittwoch wegen der Ermittlungen gegen den türkischen Politiker Doğu Perinçek scharfe Kritik aus dem türkischen Aussenministerium anhören müssen. Er konterte mit dem Verweis auf die Antirassismus-Strafnorm und die strikte Gewaltentrennung in der Schweiz.

Gyger erörterte bei einem Treffen im türkischen Aussenministerium die Affäre um den Chef der türkischen Arbeiterpartei, Doğu Perinçek, der in der Schweiz wegen Verdachts auf Verletzung der Antirassismus-Strafnorm verhört worden ist.

Einbestellt oder angeregt?

Während auf türkischer Seite verlautete, der Botschafter sei einbestellt worden, sagte der Sprecher des Eidgenössischen Departementes für auswärtige Angelegenheiten (EDA), Ivo Sieber, das Treffen sei von Schweizer Seite angeregt worden. Es habe beiden Seiten dazu gedient, ihren Standpunkt kundzutun.

Der Schweizer Botschafter habe die türkische Seite dabei darauf hingewiesen, dass die Antirassimus-Strafnorm in der Schweiz das Leugnen eines Völkermordes unter Strafe stelle. Zudem werde die Gewaltentrennung zwischen Justiz und Politik strikt eingehalten.

“Verstoss” gegen Meinungsfreiheit

Der Botschafter sei von der Auffassung der türkischen Regierung unterrichtet worden, dass die Vorermittlungen der Justiz in Winterthur gegen den türkischen Historiker Yusuf Halacoglu und den Politiker Dogu Perinçek gegen internationales Recht verstiessen, teilte das Aussenministerium mit.

In Abwesenheit eines internationalen Gerichtsurteils zu der Armenierfrage sei die Schweizer Justiz dazu nicht berechtigt. Die türkische Regierung erwarte, dass diese Vorermittlungen sofort eingestellt würden, erklärte das Aussenministerium.

Alles andere werde als eklatanten Verstoss gegen die Meinungsfreiheit bewertet. Eine solche Behandlung türkischer Staatsbürger würde “den Beziehungen zwischen den beiden Ländern unausweichlich schweren Schaden zufügen”, wurde dem Schweizer Botschafter nach Angaben des Ministeriums erklärt.

Am Donnerstag wird der Fall ein zweites Mal thematisiert, dann in Bern. Der türkische Botschafter wird beim EDA vom Chef der Politischen Abteilung I, Jean-Jacques de Dardel, empfangen werden, wie EDA-Sprecherin Carey ankündigte.

Genozid anerkannt

Die Türkei und die Schweiz liegen sich wegen der Armenier-Frage seit 2003 in den Haaren: Damals hatte das Waadtländer Kantonsparlament entschieden,den Mord an den Armeniern zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Genozid anzuerkennen.

Drei Monate später folgte auf Bundesebene der Nationalrat, der die Vertreibung und die Massaker an über einer Million Armenier von 1915 als Genozid anerkannte. Der Bundesrat jedoch weigert sich, es dem Nationalrat gleich zu tun.

Nach der Abstimmung in der Waadt hatte Ankara eine Einladung an die Schweizer Aussenministerin Micheline Calmy-Rey zurückgezogen. Der Besuch in der Türkei fand dann schliesslich im letzten März statt, nachdem sich die Situation etwas entspannt hatte.

Die offizielle Türkei bestreitet, dass es sich bei den Ereignissen von 1915 um einen Genozid handelte, und betont, dass es auf beiden Seiten Opfer gegeben habe. Es sei zu Deportationen gekommen, nicht aber zu einem Völkermord.

swissinfo und Agenturen

Zwischen 1915 und 1918 haben die Truppen des ottomanischen Reiches zwischen 800’000 und 1,8 Mio. Menschen armenischer Abstammung umgebracht.

Die Massaker ereigneten sich in den letzen Tagen des ottomanischen Reiches, das 1923 endgültig der modernen Türkei weichen musste.

Die Türkei hat den Völkermord an den Armeniern nie eingestanden.

Auf kantonaler Ebene haben in der Schweiz die Parlamente der Waadt und Genf, sowie die Kantonsregierung von Genf, den Völkermord anerkannt.

Auf nationaler Ebene ist der Völkermord vom Nationalrat, der Grossen Kammer, anerkannt worden.

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