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Blog-Entwicklungsland Schweiz

Blogger zeigen Alltag, Kunst und Politik im Netz. contrechamp.kaywa.com

Weblogs - Tagebücher im Internet - sind in der Schweiz bisher nicht sehr verbreitet. Nur eine Frage der Zeit, bis der Boom losgehe, meinen jene, die schon bloggen.

Die Schweizer Politik hat das neue Medium aber noch kaum entdeckt, und traditionelle Medien setzen sich auch nur selten damit auseinander.

Pax Salaam ist das Pseudonym des wohl berühmtesten Weblog-Autors: Der 29-jährige Architekt berichtete in seinem Internet-Tagebuch aus Bagdad über den Krieg, die Bomben, seine Homosexualität, seine Freunde und das Leben nach der Besetzung Iraks.

Sein Weblog stiess auf beträchtliches Medien-Interesse, um seine wahre Identität wurde gerätselt und der Blog kam nach dem Krieg als Buch heraus. “Salam Pax: The Clandestine Diary of an Ordinary Iraqi” ist sozusagen Literatur gewordene Form eines neuen Mediums.

1000 Schweizer Blogs

“In der Schweiz sind Weblogs immer noch erst wenigen Leuten ein Begriff”, sagt Roger Fischer. Seine Firma Kaywa, domiziliert im Zürcher Technopark, beherbergt auf ihren Servern zur Zeit etwa 350 Blogs. Auf rund Tausend schätzt er ihre Gesamtzahl.

“Ich staune, dass die Schweizer Blogger-Szene nicht lebendiger ist”, sagt auch Mario Purkathofer, Dozent für Neue Medien an der Zürcher Hochschule für Gestaltung (HGKZ). “Vom Netzzugang her müsste das Land eine Vorreiterrolle spielen.”

Chronologisches Dokumentieren

Seit anderthalb Jahren betreibt Martin Hitz, ehemaliger Leiter der Online-Ausgabe der “Neuen Zürcher Zeitung” (NZZ), einen Blog. “Ich betrachte meinen Weblog nicht als Netz-Tagebuch, sondern eher als Informationsdienst oder Fach-Blog, der die User zum Mitwirken einlädt.”

Auf Medienspiegel.ch sammelt er Informationen zu Veränderungen in der Schweizer Medienszene. 4500 Surfer besuchten den Blog im letzten Monat.

Reto Bachmann-Gmuer, Entwickler von freier Software und aufmerksamer Beobachter des Netzes, betreibt einen Blog, der Artikel aus seinen Lieblings-Blogs wieder publiziert.

Maschinensprache für die Weblogs

“Statt Gratiszeitungen lese ich im Zug immer öfters meinen eigenen Blog auf dem Handy. Auf dem Blog finde ich automatisch die neusten Artikel meiner bevorzugten Blogs. Andere können von meiner Selektionsleistung profitieren, wenn sie herausfinden, dass sie ähnliche Interesssen haben.”

Das automatische Abgrasen von Blogs macht das RSS-Format (Rich Site Summary) möglich. Dieser Standard erlaubt es, Meldungen oder Texte anderen Rechnern zur Verfügung zu stellen. “Wenn ich die Leute zwinge, auf meiner Website rumzuklicken, habe ich eine Homepage, keinen Blog.”

Diesen sogenannten RSS-Feed wertet auch Purkathofer als zentrales Element der Blog-Technologie. “Weblogs erlauben einen total andern Zugang zum Internet.”

Alltäglichkeiten und Hagelkörner

Wer sich durch Schweizer Blogs klickt, stösst meist auf Tagebücher, wo Menschen ihren Alltag dokumentieren: Sie haben Probleme mit dem iPod, der Ex-Freundin und Erfolgserlebnisse beim Party-Einlass, mit dem Nachwuchs oder laden Bilder vom Familientreffen auf den Blog.

Auch der Hagelzug, der Anfang Juli über Zürich hinwegzog, wurde mehrfach per Digital-Kamera festgehalten und Blogs damit aufdatiert.

Im Gegensatz zu einer Webseite können auch User ohne Webdesign-Kenntnisse einen Blog betreiben und aktuell halten. “Bei uns kann man sogar vom MMS-Handy Bilder direkt auf den Blog schicken und per Handy Weblogs lesen und kommentieren”, schwärmt Fischer.

Politik nutzt Blogs (noch) nicht

Die bisherige Lifestyle-Ausrichtung stört den Blog-Anbieter nicht. “Aber ich hoffe schon, dass es nicht nur so weiter geht. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis einige streitbare Personen mit einem Blog ein Signal setzen.”

Die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) betreibt zwei Blogs bei Kaywa. Und auch die Rechtsaussen-Hardlinder der Freiheits-Partei setzen – halbherzig – auf den Blog: Der letzte Eintrag “Streit unter Asylbewerbern endete mit einem Toten” aus der “Aargauer Zeitung” übernommen, ist schon einen Monat alt.

Journalist Hitz verweist auf die USA, wo es zahlreiche Polit-Blogs aus allen Lagern gebe. “Allerdings ist das Mitteilungsbedürfnis der Schweizer vermutlich kleiner als jenes der Amerikaner. Möglich, dass ‘unsere’ Zurückhaltung einem helvetischen Blog-Boom im Wege steht, denn man exponiert sich in einem Blog.”

Konkurrenz für die Medien?

Eine Denkrichtung vertritt die Position, dass Blogger mit den Nachrichten herkömmlicher Medien unzufrieden sind und sich deshalb gerne in Weblogs informieren. In einem weiteren Schritt könnte man erwarten, dass zukünfig Blogger selber die Nachrichten machen.

“Die Hoffnung ist, dass die Informations-Selektion dezentralisiert wird und es dadurch zu einer Qualitätssteigerung kommt”, erklärt Bachmann-Gmuer.

“Man spricht vom partizipativen Journalismus”, sagt Hitz, der sich gegenwärtig mit diesem Thema beschäftigt. “Die traditionellen Medien sollten diese Entwicklung ernst nehmen.” Und: “Langfristig könnten Weblogs zu einer zusätzlichen Fragmentierung des Publikums beitragen.”

Schnelles Ende im System

Purkathofer von der HGKZ gibt zu bedenken, dass die Kontinuität bei den Blogs nicht gewährleistet sei: “Bloggers haben keinen Auftrag, wie zum Beispiel öffentlich-rechtliche Medien. Blogs werden aufgeschaltet, wenn ein Thema brandheiss ist, und gehen ein, wenn das Interesse abflaut.”

Im Falle von Pax Salaam scheint das eingetreten zu sein: Sein letzter Eintrag stammt vom 6. Juli 2004.

swissinfo, Philippe Kropf

In der Schweiz gibt es rund 1000 Weblogs.
Damit ist die Schweiz ein Entwicklungsland.
Vom Blog-Boom erfasst sind vornehmlich die USA, Brasilien, aber zum Beispiel auch Polen.
Der wohl berühmteste Blogger, Pax Salaam, berichtete während des letzten Golfkriegs aus Bagdad.

In den USA, wo die Weblogs (auch Blogs) herkommen, bloggen bereits zwei bis fünf Prozent der Bevölkerung.

Das Open-Source-Lexikon Wikipedia beschreibt einen Blog als Webseite, die periodisch neue Einträge enthält, wobei neue Einträge zuoberst stehen.

Das RSS-Format erlaubt es, Blogs automatisch abzugrasen und neue Beiträge zu erfassen.

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