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Bulgarien will Vertrauen gewinnen

Die Vergangenheit ist in Sofia immer noch allgegenwärtig. swissinfo.ch

Obschon das post-kommunistische Bulgarien anstrebt, "die Schweiz des Balkans" zu werden, muss das Land auf dem Weg zu Normalität, Ordnung und wirtschaftlicher Prosperität noch viele Hindernisse überwinden.

Die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger entscheiden am 8. Februar über die Weiterführung der Personenfreizügigkeit mit der EU und deren Ausweitung auf Bulgarien und Rumänien.

Arbeitskräften aus diesen Ländern soll ein leichterer Zugang zum Schweizer Arbeitsmarkt gewährt werden.

swissinfo hat sich in der bulgarischen Hauptstadt Sofia umgeschaut.

Mehr Selbstvertrauen dank EU-Mitgliedschaft

Bulgarien ist ein Land mit viel Wachstumsperspektiven, angespornt durch die Mitgliedschaft bei der Europäischen Union EU (seit 1. Januar 2007). Die neue Position in Europa hat das Selbstvertrauen des Landes gestärkt.

“Unsere Bemühungen um eine EU-Mitgliedschaft haben uns viel geholfen, weil damit ein grosser Reformprozess im ganzen Land verbunden war”, sagt Alexei Lazarov von der bulgarischen Wochenzeitung Capital gegenüber swissinfo. “Gesetze mussten Standards angepasst werden, die wir vorher nicht kannten.”

Eine Folge des EU-Beitritts war die grössere Emigrationsfreiheit. Rund 940’000 Bulgarinnen und Bulgaren arbeiten heute im Ausland.

Schweiz kein Emigrations-Wunschland

“Die grösste bulgarische Diaspora befindet sich in den USA, gefolgt von Spanien. Auch Griechenland und Italien sind beliebte Auswanderungsländer”, so Lazarov.

“Ende letzten Jahres bekamen aber schon viele unserer Emigranten die Auswirkungen der Finanzkrise zu spüren. Viele Bulgaren, vor allem solche, die in Spanien im Bausektor arbeiteten, kehrten in die Heimat zurück.”

Die Schweiz gehört in Bulgarien nicht zu den Emigrations-Wunschländern. Laut Kommentatoren gilt das Land als klein, verschlossen und unerschwinglich teuer. Die Handelsbeziehungen zwischen den beiden Ländern sind bis heute minimal.

Hauptproblem Korruption

In jedem Gespräch mit Bulgaren über den Zustand ihres Landes ist die Korruption unweigerlich ein Thema. Sie ist allgegenwärtig: vom kleinen Polizisten bis in die höheren Behörden-Etagen.

Das Problem hat jüngst dem Stolz des Landes einen Schlag versetzt, als die EU eine Tranche von Kohäsionsgeldern einfror. Brüssel befürchtete, dass die Gelder nicht sauber eingesetzt werden könnten.

“Es handelt sich nicht um einen Riesenbetrag, aber für Bulgarien ist es ein Skandal und setzt die Regierung unter Druck”, sagt der Ökonom Georgy Ganev gegenüber swissinfo. Ganev ist Direktor des Think-Tanks Zentrum für liberale Strategien (CLS) in Sofia.

“Die ganze politische Klasse ist im Sandwich zwischen der eigenen Bevölkerung und Brüssel. Es gibt eine erstaunliche Übereinstimmung zwischen bulgarischer Öffentlichkeit und EU in der Sorge über die Korruption und das Organisierte Verbrechen im Land. Die Regierung wird von beiden Seiten zum Handeln gedrängt.”

Rückgang des Organisierten Verbrechens

Das Organisierte Verbrechen ist immer noch ein Problem, allerdings nicht mehr im gleichen Ausmass wie nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in den 1990er-Jahren.

“Damals war der Einfluss des Organisierten Verbrechens auf der makro-ökonomischen Ebene des Landes klar ersichtlich”, so Ganev.

“Das Budget war defizitär, und die Banken erfüllten ihre Pflichten nicht, weil die Gauner die Banken beherrschten. Das ist heute nicht mehr so. Es gibt zwar immer noch Gruppen des Organisierten Verbrechens in Bulgarien, einige liiert mit dem Ausland, aber das Niveau ist nicht mehr so hoch.”

Die globale Wirtschaftskrise

Im Vorfeld der Parlamentswahlen im kommenden Juni beschäftig die Bevölkerung ein anderes Thema sehr: die globale Finanz- und Wirtschaftskrise, und wie sich Bulgarien vor deren Auswirkungen schützen kann.

“Wirtschaftlich bestehen bedeutende Risiken, auf der anderen Seite gibt es weiterhin dieses grundlegende Wachstumspotenzial, weil das Land aufholen will”, betont Ganev. Entscheidend sei auch, wie gross der Konsumeinbruch in der EU sein wird, denn diese ist der bedeutendste Exportmarkt Bulgariens.

Nicht an Rezession denken jene optimistischen Studentinnen und Studenten, mit denen swissinfo in Sofia sprach. Vielen von ihnen wurden schon vor Abschluss des Studiums Jobs angeboten.

Ins Ausland gehen wollen sie lieber, um Ferien zu machen, und nicht um Arbeit zu suchen. Dilyana Pavlova, die europäische Geschichte studiert, will unbedingt in die Schweiz kommen – um das Zentrum Paul Klee in Bern zu besuchen.

Die Minderheiten

Wenn es um den Status der zwei grössten Minderheiten in Bulgarien geht, weist das Land ganz gute, aber auch ganz schlechte Resultate auf.

Trotz gewissen Schwierigkeiten in der kommunistischen Vergangenheit ist die türkische Minderheit (10% der Bevölkerung) heute gut integriert, sowohl sozial wie wirtschaftlich.

Die politische Partei der ethnischen Türken in Bulgarien, die Bewegung für Bürgerrechte und Freiheiten, gehört der Drei-Parteien-Regierungskoalition an und nimmt an den Parlamentswahlen im Juni teil.

Der Fall der kleineren Roma-Minderheit liegt anders: “Die Roma sind unterprivilegiert, werden schwer diskriminiert”, sagt Ganev. “In den Bereichen Gesundheit, Ausbildung und Arbeit stehen sie am untersten Rand der bulgarischen Gesellschaft.” Andererseits sei es nicht leicht, die Roma in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

“Es ist für beide Seiten ein sehr schwieriger Prozess. Vorurteile, die politisch missbraucht werden können, müssen überwunden werden.”

(Übertragung aus dem Englischen: Jean-Michel Berthoud)

Bevölkerung: 7,97 Millionen

Bruttoinlandprodukt in $: 12’400

Wirtschaftswachstum 2008 (Schätzung für 2009): 7% (4,5%)

Arbeitslosigkeit (Ende Oktober 2008): 5,9%

Währung: Lev (an den Euro gebunden)

Hauptstadt: Sofia

Küste: Schwarzes Meer

Seit 1. Januar 2007 EU-Mitgliedstaat

Die bulgarische Regierung, die kurz vor dem Ende ihrer vierjährigen Amtsperiode steht, besteht derzeit aus einer Drei-Parteien-Koalition: der Sozialistischen Partei, der Nationalen Bewegung für Stabilität und Fortschritt (früher Nationale Bewegung Simeon II.) und der türkischen Bewegung für Bürgerrechte und Freiheiten.

Die Nationale Bewegung für Stabilität und Fortschritt ist die Partei von Simeon Borisov Sakskoburgottski oder Simeon II. von Bulgarien, der abgesetzte Zar von Bulgarien und frühere Ministerpräsident, der den grössten Teil seines Lebens in Spanien verbrachte. Er ist der einzige Monarch in der Geschichte, der demokratisch zum Regierungschef gewählt wurde.

Bei den Parlamentswahlen 2005 wurde die ultra-nationalistische Partei Ataka (Wählerinitiative Attacke) mit 9% der Stimmen zur viertgrössten Parlamentsfraktion gewählt. Führer der Ataka ist TV-Star Volen Siderov.

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