BVG-Reform: Wie komplex darf eine Abstimmung sein?
Die BVG-Reform, die am 22. September zur Abstimmung kommt, hat es in sich. Was aber tun, wenn das Stimmvolk über Dinge urteilen muss, die auch Expert:innen an ihre Grenzen bringen? Eine Erörterung in sieben Punkten.
Ist die BVG-Reform zu komplex fürs Volk? Die Antwort des Tages-AnzeigersExterner Link ist klar: «Diese Abstimmung zeigt in all ihrer komplizierten Uneindeutigkeit die Grenzen der direkten Demokratie auf. Und schwächt sie damit», schrieb die Zeitung und titelte: «Diese Vorlage ist ein Albtraum.» Auch das Online-Medium WatsonExterner Link analysiert: «Allein die Fachbegriffe sind eine Zumutung für die durchschnittlichen Stimmberechtigten.»
Warum mutet die Schweiz ihrem Stimmvolk dies zu? Wir erklären es in sieben Punkten.
1. Muss man eine Vorlage verstehen, um darüber abzustimmen?
Nein. Demokratie-Forscher Nenad Stojanaović fragt rhetorisch: «Glauben Sie, dass alle Parlamentarier:innen, die im Parlament über solche Vorlagen entscheiden, genau Bescheid wissen?» Seine Antwort: «Sicher nicht.»
Parlamentsmitglieder halten sich laut Stojanović darum an Empfehlungen der Kommissionen, ihrer Fraktion, oder sie folgen allenfalls Lobbys. Darum dürften Stimmbürger:innen erst recht auch Empfehlungen folgen. Orientierungshilfe gäbe es genug.
Wir erklären die Abstimmungsvorlage in diesem Artikel:
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BVG-Reform: Darum geht es bei der Abstimmung
Die Politikwissenschaft spricht dabei von Shortcuts, Abkürzungen. «Wir schauen, was die Parteien empfehlen, allenfalls auch, wie sich Persönlichkeiten und Medien dazu äussern», sagt Stojanovic.
Meinungsforscher Urs Bieri von Gfs Bern ergänzt: «Die wenigstens Entscheide treffen wir vollständig informiert, auch nicht im Alltag.» Bieri ist aber überzeugt: «Die Schweiz ist dank 100 Jahren direkter Demokratie so aufgestellt, dass ihre Bürger:innen auch bei hochkomplexen Problemen zu einem für sie stimmigen Entscheid kommen können.»
2. Was macht diese Vorlage so kompliziert?
Die einfache Antwort ist: Weil das Dossier so komplex ist. Dies aus zwei Gründen.
Zum Ersten ist die berufliche Vorsorge in der Schweiz über Jahrzehnte gewachsen. Das entsprechende Bundesgesetz über die berufliche Vorsorge (BVG) berücksichtigt daher Impulse aus unterschiedlichen Epochen, von unterschiedlicher Seite.
Zum Zweiten operieren im Rahmen dieses Gesetzes über Tausend unterschiedliche Pensionskassen, die je ihre eigenen Regelwerke mitbringen. Das führt nun zu einem Zahlensalat, der generelle Aussagen verunmöglicht.
Dazu kommt ein dritter Faktor: Es handelt sich um ein Referendum. Während Volksinitiativen tendenziell einfach verständliche Ideen an die Urne bringen, ist das bei Referenden anders. Diese entstehen oft dann, wenn die professionelle Gesetzesschmiede des Parlaments keinen Ausweg oder keine Kompromisse mehr findet. Darum kommen ab und zu Vorlagen vors Volk, die selbst den hoch spezialisierten Kommissionen der beiden Parlamentskammern eigentlich zu schwer waren.
3. Was sagen die Macherinnen der BVG-Reform?
Die Arbeit an der BVG-Reform gilt als eine der schwierigsten Parlamentsaufgaben der letzten Jahre. Das Ringen dauerte 1,5 Jahre.
«In diesem Fall hat das Parlament seine Hausaufgaben gemacht», sagt Sozialpolitikerin Martina Bircher von der SVP. Sie hat an der Reform mitgearbeitet und erklärt: «Das BVG ist so aufgebaut, wie es ist. Man kann es nicht einfacher machen.» Die Reform enthalte aber alle Punkte, die in den letzten Jahren zu Recht kritisiert worden seien. Das macht die Vorlage laut Bircher nun zu einem guten Kompromiss.
Samira Marti steht als SP-Fraktionschefin am andern Ende des politischen Spektrums. Auch sie sagt: «Die Vorlage selbst ist nicht besonders kompliziert. Das ist das Problem der beruflichen Vorsorge an und für sich.» Sie glaubt, dass die Zweite Säule nicht ohne Grund zu einer «Geheimwissenschaft» geworden sei, denn so könnten Banken und Versicherungen ihre Interessen besser durchsetzen. «Je weniger Leute den Durchblick haben, desto anfälliger ist es für Machtmissbrauch und Abzockerei. Das sieht man auch dieser Reform an.»
4. Ist die BVG-Reform die komplexeste Vorlage aller Zeiten?
Nein, immer wieder kommen in der Schweiz Vorlagen zur Abstimmung, welche die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger an die Grenzen bringen. In der Regel sind es Steuervorlagen, zuletzt etwa zwei Unternehmenssteuer-Reformen, oder die Verrechnungssteuer-Reform.
Aber: Die BVG-Reform ist wohl die schwierigste unter allen Vorlagen, welche Stimmbürgerinnen und Stimmbürger – unter Umständen – direkt im Portemonnaie betreffen. Denn es geht nicht nur ums Rentensystem, sondern mutmasslich auch um die eigene Rentenhöhe. «Die direkte Demokratie hat grossen Einfluss auf unsere Altersvorsorge», sagt Samira Marti, «es gibt kaum ein anderes Dossier, das so stark von Volksabstimmungen geprägt ist wie unser Rentensystem.» Sie erinnert an die 13.AHV-Rente, die das Volk in diesem Frühling beschlossen hat.
5. Braucht es Grenzen der Komplexität?
Nein, sagt Nenad Stojanovic. «Keine politische Frage ist so komplex, dass sie normale Bürgerinnen und Bürger nicht verstehen könnten», ist der Demokratieforscher der Uni Genf überzeugt. Er muss es wissen, er befasst sich damit.
Stojanović hat einige Bürgerpanels initiiert. In diesen kommt eine Gruppe ausgeloster Bürger:innen zusammen, um in einer komplexen Fragestellung Lösungen zu finden. Seine Erfahrung ist: «Innerhalb von zwei Wochenenden können dabei ganz normale Bürgerinnen auch von sehr komplexen Vorlagen die wichtigsten Aspekte verstehen und dazu einfach verständliche Argumente entwickeln.» Solche Panels können ein Modell sein, sie können für Stimmbürgerinnen die Arbeit einfacher machen.
Aber müsste man es dem Stimmvolk nicht einfacher machen? Die Nationalrätinnen Samira Marti und Martina Bircher sitzen nicht nur in der für das Rentensystem zuständigen Sozialkommission, sondern auch in der staatspolitischen Kommission. Würden Sie – theoretisch – die Idee einer Komplexitäts-Bremse unterstützen? «Ich würde nie eine Obergrenze einführen für Komplexität von Vorlagen», sagt Rechtspolitikerin Bircher. Auch Linkspolitikerin Marti sagt: «Nein, da wäre ich nicht dabei.»
6. Was passiert, wenn es zu komplex wird?
Die Wissenschaft sagt, der Mensch strebt nach Vereinfachung. Dafür gibt es Instrumente. In der Politikwissenschaft spricht man von Knackpunkten und Parolen. «Man kann auf Knackpunkte fokussieren, und seinen Entscheid an diesen festmachen», sagt Meinungsforscher Urs Bieri, also einzelne besonders störende oder lohnende Aspekte für sich herausfiltern und zur Entscheidungsgrundlage machen.
Eine weitere Orientierungshilfe sind die Parolen, die erwähnten Abkürzungen. «Wenn eine Partei mir aufzeigt, was in meiner Wertewelt der Knackpunkt ist, dann kann ich mich entscheiden», erklärt Bieri.
Bei der BVG-Reform bietet die Gegnerschaft mit der Formel «Mehr bezahlen für weniger Rente» eine solche Orientierung. Es gehe in solchen Fällen dann oft nicht mehr um Inhalte, sondern um Marketing, sagt Martina Bircher von der SVP.
Aber: «Schwierig wird es dann, wenn die komplette Kakofonie ausbricht», sagt Politikforscher Urs Bieri. Er meint damit: Wenn zu viele Komitees mit verschiedenen Botschaften auftauchen, dazu widersprüchliche Studien, abweichende Meinungsträger innerhalb von Parteien – und Medien, die vor der Komplexität kapitulierten. «Wenn viele mir relevante Abkürzungen versagen, lasse ich mich als Stimmbürger nicht auf das Problem ein», sagt Bieri.
7. Wie wirkt sich Komplexität an der Urne aus?
Weil auch der Stimmbürger ein Mensch ist, scheut er die Komplexität. «Versteht er das Problem nicht, haben Vorlagen fast nie Chancen an der Urne», sagt Meinungsforscher Urs Bieri, «dann hält man am bestehenden fest, stimmt also Nein». Im Einzelfall könne Überforderung auch zur Abstinenz führen, also zu tiefer Stimmbeteiligung.
Im Fall der BVG-Reform spielt ein weiteres Muster rein. Es ist eine sogenannte Behördenvorlage, gemacht vom Parlament, empfohlen von der Regierung. Mehrheiten in der Schweiz sehen dies laut Politologe Bieri als eine Art Gütesiegel.
Unabhängig von allen Parolen, Argumenten und Inhalten kann das Pendel also in beide Richtungen ausschlagen. Die Bürger:innen vertrauen dem öffentlichen Absender und sagen Ja. Oder sie weisen das Übermass an Komplexität zurück und sagen Nein.
Editiert von Samuel Jaberg
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