Cricket: Feigenblatt der Taliban und Schweizer Integrationsmodell
In Afghanistan ist Cricket der Nationalsport schlechthin. Während die Taliban die Sportart instrumentalisieren, werten hierzulande geflüchtete Afghanen die Schweizer Cricket-Ligen auf.
An den Abenden und Wochenenden gibt’s mitten in der Stadt Zürich ein Sport-Spektakel zu beobachten: Regelmässig kommen auf der Kasernenwiese rund 30 junge Männer zusammen, um Cricket zu spielen. Das tun sie mit sehr viel Enthusiasmus und auf hohem Niveau.
Die Spieler stammen aus Afghanistan und sind aktuell im Asylzentrum der ORS untergebracht. Viele von ihnen sind minderjährig und haben die Flucht in die SchweizExterner Link allein auf sich genommen.
Einer von ihnen ist Osama. Er war 15, als er vor dem Krieg in Afghanistan floh. Via Türkei gelangt er in die Schweiz. Mittlerweile ist Osama seit zwei Jahren in Zürich, geht täglich in die Schule und spricht gut Deutsch.
Jeden Tag Cricket
Er ist ein freundlicher, höflicher, junger Mann. Wenn Osama von Cricket spricht, blüht er auf. «In Afghanistan bin ich in einem kleinen Dorf auf dem Land aufgewachsen und wir hatten keine Möglichkeit, in die Schule zu gehen», erzählt er. Darum habe er jeden Tag Cricket gespielt.
Cricket sei in Afghanistan omnipräsent, sagt der österreichisch-afghanische Journalist Emran Feroz. «Wer durchs Land fährt, sieht überall Cricket spielende Kinder, egal ob auf dem Land oder in der Stadt.»
Eine Vorform des Spiels kann bis ins 13. Jahrhundert in England zurückverfolgt werden. Richtig populär wird Cricket im 17. und 18. Jahrhundert. Damals erhält die Sportart auch ihr komplexes Regelwerk, die «Laws of Cricket».
Von Grossbritannien aus findet Cricket den Weg in die ehemals britischen Kolonien, insbesondere in die Karibik, nach Indien, Pakistan, Australien und Südafrika. In den letzten 20 Jahren wurde die Sportart modernisiert. Weil die Matchdauer verkürzt wurde, ist Cricket nun auch medial und kommerziell attraktiv.
Bei der Weltmeisterschaft 2015 schauten sich eine Milliarde Menschen das Spiel Indien gegen Pakistan an. Cricket ist heute nach Fussball weltweit die zweitbeliebteste Sportart und wird ab 2028 auch olympische DisziplinExterner Link.
Für viele junge Afghanen ist die Sportart die einzige Hoffnung, der Misere, die im Land herrscht, zu entkommen. Das Beispiel Rashid Khan zeigt, dass das funktionieren kann.
Der afghanische Cricket-Spieler ist mittlerweile Multimillionär und ein globaler Superstar. «Das bekommt auch der Underdog-Junge auf den Strassen Kabuls oder Dschalalabads mit», sagt Feroz.
Die erfolgreiche Nationalmannschaft
Afghanistan ist eine relativ junge Cricket-Nation. Die Nationalmannschaft existiert seit 2001 und wurde erst vor sieben Jahren als vollwertiges Mitglied in den Cricket-Weltverband aufgenommen. Nichtsdestotrotz erzielt das Team erstaunliche Erfolge.
Bei der Weltmeisterschaft 2023 schlug Afghanistan in der Vorrunde gestandene Grössen wie England und Pakistan. In der aktuellen Weltrangliste rangiert das afghanische Team auf Platz neun.
Erfunden wurde Cricket in EnglandExterner Link, von dort fand die Sportart den Weg in die ehemaligen Kolonien und wird heute vor allem in Indien, Pakistan, Australien und Südafrika gespielt. Nach Afghanistan gelangte Cricket auf anderem Weg.
In Flüchtlingscamps gelernt
1979 marschieren sowjetische Truppen in Afghanistan ein. Es folgt ein zehnjähriger Krieg zwischen der sowjetisch-unterstützten Regierung und den von den USA finanzierten Widerstandstruppen.
«Während des Krieges flohen viele Afghanen nach Pakistan. In den dortigen Flüchtlingscamps wurden sie von der örtlichen Cricket-Kultur beeinflusst und begannen selbst zu spielen», sagt Emran Feroz. Nach Kriegsende brachten diese Männer Cricket zurück nach Afghanistan. Heute ist es dort der Nationalsport schlechthin.
Taliban investieren in Cricket
Seit 2021 die radikalislamischen Taliban zum zweiten Mal die Macht in Afghanistan ergriffen haben, ist das Land im Krisenmodus.
Die Wirtschaft ist praktisch inexistent, die Armut gross, Menschenrechtsverletzungen sind an der TagesordnungExterner Link und gemäss der Welthungerhilfe sind zwei Drittel der Menschen in Afghanistan auf humanitäre Hilfe angewiesen. Trotz der Misere lassen die Taliban in vielen grösseren Städten neue Cricket-Stadien und -Felder bauen.
Die meisten Taliban-Kämpfer und -Funktionäre hätten selbst Zeit in einem pakistanischen Flüchtlingscamp verbracht und dort Cricket spielen gelernt, sagt Emran Feroz. «In der aktuellen Regierung gibt es viele Fans der Sportart.»
Ein weiterer Grund für das Interesse der Taliban an Cricket ist, dass es die Nation eint. In Afghanistan leben Paschtunen, Tadschikinnen, Hazara, Usbekinnen, Turkmenen und anderen Ethnien zugehörige Menschen. Die kulturellen Unterschiede sorgen immer wieder für Differenzen.
Aber wenn die afghanische Nationalmannschaft aufläuft, sitzen alle vor den Fernseh- und Radiogeräten und feuern ihr Team an. Cricket vereint über ethnische Grenzen hinweg und ist deswegen ein wichtiges innenpolitisches Instrument.
Die «fortschrittliche» Sportnation
Hinzu kommt, dass die Taliban glauben, sich mit den Erfolgen des Nationalteams auf der internationalen Sportbühne als fortschrittliche Nation präsentieren zu können. «Die Taliban fördern Cricket, weil sie sich aussenpolitisch davon etwas erhoffen», sagt Emran Feroz.
Somit wird Cricket in Afghanistan zu einem Feigenblatt. Dahinter verbirgt sich nicht nur eine katastrophale wirtschaftliche und humanitäre Lage, sondern auch die Tatsache, dass die Taliban die Freiheit von Frauen und Mädchen unterdrückenExterner Link. Vom Cricket-Boom kann der weibliche Teil der afghanischen Gesellschaft nicht profitieren, denn Sport ist Frauen untersagt.
Mehr
Wie Fernunterricht die Hoffnung afghanischer Mädchen auf Bildung am Leben erhält
Kritik aus der Diaspora
Während im Land desaströse Zustände herrschen, lässt sich die afghanische Nationalmannschaft feiern und mit Taliban-Funktionären abbilden. «Dass sich das Nationalteam so instrumentalisieren lässt, hat aus der Diaspora für heftige Kritik gesorgt», sagt Afghanistan-Kenner Emran Feroz.
Gleichzeitig gehöre Cricket aber auch zu den letzten Dingen im Land, die der Bevölkerung ein bisschen Freude und Ablenkung bescherten, gibt Feroz zu bedenken.
Keine Schweizer Cricket-Profis
Zurück zu Osama nach Zürich. Weil die Schweiz nicht exakt eine Cricket-NationExterner Link ist und es keine Spieler gibt, die ausschliesslich von der Sportart leben können, hat Osama seinen Cricket-Profi-Traum schon fast begraben. Die Trauer darüber hält sich aber in Grenzen.
Zum einen, weil er hier eine Schule besuchen und eine Ausbildung absolvieren kann. Dadurch tun sich andere Zukunftsmöglichkeiten auf. Zum anderen hat er trotzdem eine Art Mini-Cricket-Karriere hingelegt.
Mittlerweile spielt Osama nicht mehr oft auf der Kasernenwiese in Zürich, sondern ist Mitglied im Zürich Lions Cricket Club, einer von rund 30 Cricket-Clubs, die es in der Schweiz gibt.
Beide Seiten profitieren
Weil die Asylzentren wissen, dass Cricket bei Afghanen hoch im Kurs steht, stellen sie Kontakte her zu Cricket-Teams. Rund 60 Prozent aller Spieler der Schweizer Ligen hätten afghanische Wurzeln, sagt Mohamed Vasim, stellvertretender Verbandschef von Cricket Switzerland.
Diese Clubs würden wichtige Integrationsarbeit leisten, sagt Vasim. «Die Spieler kommen mit anderen Kulturen in Kontakt und werden ins Schweizer VereinswesenExterner Link eingebunden.» Wichtig sei auch, dass sie Teamspirit entwickeln und auch mal einen sportlichen Erfolg verbuchen könnten.
Mohamed Vasim betont, dass nicht nur die Spieler, sondern auch die Schweizer Cricket-Clubs profitieren würden. «Afghanische Spieler werten die Liga auf, weil es sehr gute und enthusiastische Spieler sind.»
Cricket-Nation Schweiz?
Aktuell liegt das Männerteam der Schweizer Cricket-Nationalmannschaft auf dem 49. Platz der Weltrangliste. Ein paar zusätzliche talentierte Spieler würden dem Team guttun.
1980 wurde in Genf die erste Schweizer Cricket-Liga mit vier Teams gegründet. Heute gibt es drei Ligen, rund 1400 registrierte Spieler sowie schweizweit 30 Cricket-Clubs und -Schulen.
Pro Jahr werden rund 400 Matchs absolviert. Seit letztem Jahr gibt es auch eine Frauenliga mit 5 Teams. Über 95 Prozent der Spielerinnen und Spieler hätten Migrationshintergrund, sagt Mohamed Vasim, stellvertretender Vorsitzender von Cricket Switzerland.
Mitspielen darf, wer mindestens drei Jahre ohne Unterbruch in der Schweiz lebt und einen Aufenthaltsstatus hat, der es der Person erlaubt, ins Ausland zu reisen. Somit hat Osama doch noch nicht ganz ausgeträumt. «Vielleicht kann ich irgendwann für die Schweizer Nationalmannschaft spielen», sagt er.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch