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Wer hat in der Schweiz noch Lust auf Lokalpolitik?

Gemeindeversammlung, aber nur eine Person sitzt auf den Stühlen
In den Exekutiven und Legislativen der Gemeinden wird es immer schwieriger, leere Stühle zu besetzen. Keystone / Ennio Leanza

In der Schweiz wird es immer schwieriger, Interessierte für lokale politische Ämter zu finden. Grund dafür sind schlechte Löhne, immer komplexere Themen und die Angst vor öffentlicher Kritik. Es braucht Lösungen, um die Zukunft des Milizsystems – einen Pfeiler der schweizerischen Demokratie – zu sichern.

«Wir haben in der Schweiz ein ganz offensichtliches Problem», sagt Reto SteinerExterner Link, Leiter der Fakultät für Management und Recht an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW. Und weiter: «Die Hälfte der Gemeinden bekundet Mühe, Personen zu finden, die bereit sind, ein politisches Amt zu übernehmen.»

Es handelt sich um ein Problem des Schweizer Milizsystems, das regelmässig in der lokalen und nationalen Presse thematisiert wird. Kürzlich sorgte der Fall der Gemeinde Wassen im Kanton Uri für Schlagzeilen, wo zwei Ämter als Gemeinderäte nur dank des so genannten Amtszwangs besetzt werden konnten.

Zwei Bürger wurden in diesem Fall – auch gegen ihren Willen – zur Übernahme eines Amts verpflichtet. Grundlage ist ein entsprechendes Kantonalgesetz, das 2016 mit grosser Mehrheit verabschiedet wurdeExterner Link.

In sieben Kantonen kann der Staat Bürgerinnen und Bürger dazu zwingen, ein Amt zu übernehmen, auch wenn eine Person vorab nicht für dieses Amt kandidiert hat.

Der so genannte Amtszwang gilt in den Kantonen Zürich, Luzern, Uri, Nidwalden, Solothurn, Appenzell Innerrhoden und Wallis.

In einigen Kantonen umfasst der Amtszwang nur Ämter in Gemeinden, in anderen kann er sich auch auf bestimmte politische Mandate auf kantonaler Ebene erstrecken. Die Sitze in den Exekutiven und Legislativen werden jedoch fast immer durch Volkswahlen oder durch Ernennung durch die zuständigen Behörden vergeben.

Der Kanton Bern hat den Amtszwang abgeschafft, stellt es aber den Gemeinden frei, einen solchen einzuführen. Mindestens zwei Dutzend haben das gemacht.

Zur Anwendung kam der Amtszwang 2002 in Finsterhennen im Seeland. Dort wurde ein Bürger, der gegen seinen Willen in den Gemeinderat gewählt worden war, mit 4000 Franken Busse bestraft, weil er nicht an den Sitzungen des Gremiums teilnahm.

Quelle: Lukas Leuzinger, Napoleon’s Nightmare, Artikel vom 19. Januar 2017: Amtswürde wider WillenExterner Link

Wassen ist ein kleines Bergdorf, weltbekannt für seine markante Kirche, im Dialekt «Chileli vo Wasse» genannt.

Der ehemalige Bundesrat Adolf Ogi besuchte es mit den europäischen Verkehrsministern, um sie davon zu überzeugen, dass es keine Alternative zum Gotthard-Basistunnel als Teil der Neuen Alpentransversalen NEATExterner Link gibt.

Personenzug, Kirche im Hintergrund
Die berühmte Kirche in Wassen, an der Autobahn zum Gotthardtunnel. Keystone / Urs Flüeler

Das Dorf liegt 20 Autominuten von Altdorf entfernt, dem Hauptort des Kantons Uri. Es hat rund 450 Einwohnerinnen und Einwohner, von denen 250 stimmberechtigt sind und die Ende September 2024 an die Urne gerufen wurden, um zwei neue Exekutivmitglieder zu wählen.

Da im ersten Wahlgang niemand das absolute Mehr erreicht hatte, wurden im November zwei Männer gegen ihren Willen gewählt. Der erste erhielt 24 Stimmen, der zweite 13. Die Weigerung, das Amt anzunehmen, hätte eine Busse von 5000 Franken zur Folge gehabt. Ist das Problem damit gelöst? Nicht wirklich.

>> Entdecken Sie unseren ausführlichen Artikel über die Gemeindeversammlungen in der Schweiz.Externer Link

Gemeindefusionen lösen das Problem nicht

«Personen in ein politisches Amt zu zwingen, ist kontraproduktiv und stellt keine Lösung dar», meint Steiner. «Auf diese Weise werden nur die Symptome eines Problems bekämpft, ohne das Übel an der Wurzel zu packen.»

Steiner ist Verfasser des Nationalen GemeindemonitoringsExterner Link, das seit 1998 alle fünf Jahre den Zustand und die Entwicklung der Gemeinden in der Schweiz beschreibt und analysiert.

Am 1. Januar 2024 zählte die Eidgenossenschaft 2131 politische Gemeinden. Seit den 1990er-Jahren ist ihre Zahl in Folge von Fusionen stetig gesunken: Seit 2010 sind fast 500 Gemeinden verschwunden. Doch das Problem, Personen zu finden, die ein öffentliches Mandat zu übernehmen bereit sind, ist nicht verschwunden.

Das Milizsystem ist ein Pfeiler der direkten Demokratie in der Schweiz. Es soll garantieren, dass die Bürgerinnen und Bürger mitentscheiden und aktiv am öffentlichen Leben teilnehmen.

Laut Monitoring muss jede Gemeinde durchschnittlich 34 Sitze zwischen Exekutive und Legislative besetzen. Das bedeutet folglich, dass fast 73’000 Personen gefunden werden müssen, die zur Übernahme eines Teilzeitmandats bereit sind.

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«Immer weniger Menschen engagieren sich ehrenamtlich: Das ist nicht nur ein Problem der Politik, sondern auch des Vereinswesens in der Schweiz», sagt Pirmin BundiExterner Link, Assistenzprofessor an der Universität Lausanne.

«Die politischen Ämter verlieren leider ihr einstiges Ansehen. Wir müssen uns als Gesellschaft die Frage stellen, ob das Milizsystem noch funktioniert oder ob wir über neue Organisationsformen nachdenken müssen», so der Politologe.

Trotz aller Probleme erfreut sich das Milizsystem in der Schweiz nach wie vor grosser Beliebtheit. Gemäss dem von Bundi mitverfassten Buch Milizarbeit in der SchweizExterner Link glaubten 2019 noch 75% der Miliztätigen an diesen Eckpfeiler der Schweizer Mitwirkungsdemokratie. Zugleich bleibt aber unklar, wie viele Bürger:innen sich aktiv für das Gemeinwohl einzusetzen bereit sind.

Professionalisierung der Gemeindeverwaltung

Manchmal geht es um recht einfache Entscheide: Soll ein Weihnachtsmarkt auf dem Dorfplatz organisiert werden? Oder soll eine kulturelle Veranstaltung unterstützt werden?

Doch Gemeinderätinnen und Gemeinderäte müssen sich zusehends mit komplexen Themen wie Raumplanung, Digitalisierung oder dem Umgang mit Asylsuchenden befassen. Und dies unabhängig von der Grösse der Gemeinde, die in der Schweiz durchschnittlich 1693 Einwohnerinnen und Einwohner zählt.

Das Präsidentschaftsamt einer Gemeinde ist daher eine Verpflichtung, das nicht auf die leichte Schulter genommen werden sollte.

Der Zeitaufwand für einen Gemeindepräsidenten oder eine Gemeindepräsidentin beträgt im Durchschnitt fast 19 Stunden pro Woche, für die anderen Mitglieder der Exekutive etwa zehn. «Es handelt sich um eine Aufgabe, die sich nur schwer mit dem Berufs- und Familienleben vereinbaren lässt», sagt Steiner.

Und so sieht der typische Gemeinderat in der Schweiz aus: Ein verheirateter Mann, 54 Jahre alt, beruflich in einer Führungsposition oder selbständig. «Das Durchschnittsalter der Exekutivmitglieder steigt», sagt Steiner.

«Frauen und Männer unter 45 Jahren sind unterrepräsentiert. Die Gemeinderäte spiegeln heute nicht mehr alle Bevölkerungsschichten wider, und das ist ein Problem», so der ZHAW-Professor.

«Ein professionelles Gemeindemanagement ist unerlässlich, um den nötigen Aufwand zu reduzieren und öffentliche Aufgaben, Arbeit und Privatleben besser vereinbaren zu können», sagt Jonas WilliseggerExterner Link, Professor für Public Management und Politik an der Hochschule Luzern (HSLU). Er erforscht seit mehr als zehn Jahren die Verwaltungsstrukturen der rund 1500 Gemeinden in der Deutschschweiz.

In seinen Studien konnte er besonders effiziente Organisationsmodelle ausfindig machen, darunter das «CEO-Modell»: «Bei diesem Modell übernimmt ein Geschäftsführer die operative Leitung und fungiert als Bindeglied zwischen Verwaltung und Gemeinderat», so Willisegger.

«Die klare Trennung zwischen operativen Verwaltungsaufgaben und den strategischen und politischen Entscheidungen, die bei der Exekutive liegen, entlastet die Mitglieder des Gemeinderats erheblich.»

Öffentliche Ämter leiden unter Prestigeverlust

Die Professionalisierung der Gemeindeverwaltung macht politische Funktionen auf lokaler Ebene attraktiver und erleichtert die Rekrutierung von politischen Mandatsträgerinnen und -trägern.

«Gut definierte Gemeindeführungsmodelle machen Mandate weniger belastend und erhöhen die Bereitschaft, sich im öffentlichen Leben zu engagieren», sagt Willisegger und weist darauf hin, dass sich eine mangelhafte Führungsorganisation in der Gemeinde herumspricht und die Rekrutierung von qualifizierten Persönlichkeiten erschwert.

«Eine dysfunktionale Verwaltung kann eine Abwärtsspirale in Gang setzen, die nur schwer zu stoppen ist und die Qualität der kommunalen Verwaltung langfristig beeinträchtigt», so der Professor abschliessend.

Steiner schlägt vor, die Löhne beziehungsweise Aufwandentschädigungen zu erhöhen. Dies sei gerade in kleineren Gemeinden nötig, wo die Löhne im Verhältnis zu den übernommenen Aufgaben oft unangemessen seien. Gleichzeitig gebe es ein hohes Risiko, öffentlicher Kritik ausgesetzt zu werden.

Willisegger weist seinerseits darauf hin, dass die Frage der Bezüge zwar wichtig sei, der Spielraum für Erhöhungen aber vor allem in kleinen und peripher gelegenen Gemeinden begrenzt sei.

Steiner schliesslich macht auf einen weiteren Aspekt aufmerksam: «Die traditionellen Medien neigen dazu, Konflikte und Probleme zu betonen; ein Phänomen, das von den Bürgerinnen und Bürgern über die sozialen Medien noch verstärkt wird.»

Der ZHAW-Professor weist darauf hin, dass sich in einem solchen Kontext viele Menschen fragen, ob es sich wirklich lohnt, ein politisches Amt in einer Gemeinde zu übernehmen.

Dieses Problem betont auch Pirmin Bundi von der Universität Lausanne: «Wenn alles gut läuft, klopft einem niemand auf die Schulter. Ein öffentliches Amt sollte mehr gesellschaftliche Anerkennung bekommen. Dies würde uns auch erleichtern, das Milizsystem auf lokaler Ebene zu erhalten.»

Die Hochschule Luzern (HSLU) hat im Jahr 2014 vier Grundtypen von kommunalen Führungsmodellen beschrieben und diese in einer aktuellen Studie auf sieben Modelle erweitert:

CEO-Modell: Dieses Modell trennt strikt die politisch-strategische Verantwortung von der operativen Umsetzung. Die Leitung der Verwaltung obliegt einem angestellten Geschäftsführer, während die Exekutive sich auf Strategie und Kontrolle konzentriert.

Milizmodell: Hier trägt der Gemeinderat die Gesamtverantwortung und organisiert sich in Ressorts. Die strategische Führung steht im Fokus, während viele operative Aufgaben ausgelagert oder regionalisiert werden. Die Gemeinderatsmandate sind mit tiefen Pensen ausgestaltet.

Departementsmodell: Die Exekutivmitglieder führen jeweils ein Ressort strategisch und personell. Dieses Modell betont die Zusammenarbeit innerhalb der Exekutive, erfordert jedoch höhere Pensen.

Stadt-Modell: Eine spezifische Form des Departements-Modells, das vor allem in grösseren Städten Anwendung findet. Vollamtliche Stadträte übernehmen die Leitung von Departementen, unterstützt durch Departementstäbe sowie eine übergreifende Stadtkanzlei, die meistens auch die Schnittstelle zur Parlamentsarbeit bildet.

Operatives Modell: Die Exekutivmitglieder sind sowohl strategisch als auch operativ tätig. Dieses Modell erfordert hohe Fachkompetenz und ermöglicht eine enge Verbindung zur Bevölkerung, führt jedoch zu hoher Arbeitsbelastung.

Präsidial-/Delegierten-Modell: Die Verwaltungsleitung wird vom Gemeindepräsidium oder einem delegierten Mitglied des Gemeinderats übernommen. Dies schafft klare Verantwortlichkeiten, kann aber zu einem Informationsvorsprung des Präsidiums bzw. des delegierten Ratsmitglieds führen.

Tandem-Modell: Eine duale Führungsstruktur, in der Gemeindepräsidium und Verwaltungsleitung eng kooperieren. Es verbindet strategische und operative Ebenen, erfordert jedoch ein starkes Vertrauensverhältnis zwischen den beiden Positionen.

Quelle: Jonas Willisegger/Marco Eichenberger (2024): Gemeindeführungsmodelle in der Deutschschweiz – eine empirische AnalyseExterner Link

Editiert von Daniele Mariani. Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob.

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