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“Wir haben eine mutige Demokratie und das gefällt mir”

"Das Vertrauen ist nicht weg. Die direkte Demokratie der Schweiz ist da ganz besonders: Sie ist geprägt vom Zusammenspiel aller Akteure": Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga. Keystone

Die Schweizer Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga plädiert im Interview mit swissinfo.ch für eine politische Kultur, die "auch auf dem Respekt von Andersdenkenden beruht". Auch wenn gewisse Volksinitiativen kaum mit dem Völkerrecht zu vereinbaren seien, funktioniere das System.

Grösste Baustelle der Justizministerin im Jahr 2015 wird die Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative sein. Im schriftlich geführten Interview betont sie, gleichzeitig die Zuwanderung zu steuern und den bilateralen Weg beizubehalten, sei anspruchsvoll. Die EU habe jedoch signalisiert, sie sei offen für Diskussionen.

swissinfo.ch: Es gibt – und die Tendenz nimmt zu – Volksinitiativen, deren Forderungen problematisch oder kaum umsetzbar sind und die zu Konflikten mit dem Völkerrecht führen. Beispiel: Die vom Stimmvolk gutgeheissene Ausschaffungs-Initiative. Muss oder soll ihrer Ansicht nach das Initiativrecht eingeschränkt werden?

Simonetta Sommaruga: Tatsächlich ist die Umsetzung von Volksinitiativen eine Herausforderung, wenn neue Bestimmungen in der Verfassung in einem Spannungsverhältnis mit bestehenden Artikeln oder dem Völkerrecht stehen. Auch deshalb werden derzeit verschiedene Reformvorschläge gemacht. Das begrüsse ich, denn in der direkten Demokratie braucht es immer wieder solche Diskussionen.

Ich bin aber der Überzeugung, dass nicht die Regeln entscheidend sind für das Funktionieren unseres Systems, sondern die politische Kultur. Wir brauchen eine politische Kultur, die auch auf dem Respekt von Andersdenkenden beruht, und zwar auf allen Ebenen: im Bundesrat, im Parlament, in der Bevölkerung. In unserer Demokratie sind alle wichtig.

swissinfo.ch: Europaweit sind populistische Bewegungen im Aufwind. Auch in der Schweiz gibt es ein wachsendes Misstrauen gegenüber der etablierten Politik. Ein Indiz dafür sind die Abstimmungen, die Bundesrat und Parlament verloren haben. Wie wollen Sie das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger wieder zurück gewinnen?

S.S.: Das Vertrauen ist nicht weg. Die direkte Demokratie der Schweiz ist da ganz besonders: Sie ist geprägt vom Zusammenspiel aller Akteure. Das prägt unsere politische Kultur und führt dazu – auch wenn sich Parlament, Regierung und Bevölkerung einmal nicht einig sind –, dass keine Kluft zwischen Bevölkerung, Parlament und Bundesrat entsteht.

Das ist ja das wunderbare an unserem demokratischen System, Bürgerinnen und Bürger tragen viel Verantwortung. Wir haben ein mutiges System, und das gefällt mir. Die direkten Volksrechte wurden ursprünglich gerade dafür geschaffen, um jenen Stimmen ein Gewicht zu verleihen, die über die etablierten Wege der Gesetzgebung sonst ungehört verhallten.

swissinfo.ch: Die direkte Demokratie hat in den vergangenen Jahren auch dazu geführt, dass die Schweiz als internationaler Partner einen Teil ihrer Berechenbarkeit verloren hat. Ist die direkte Demokratie zu einem Wettbewerbsnachteil geworden?

S.S.: Nein, im Vergleich zu Staaten, in denen die Regierungen regelmässig ausgewechselt werden, sorgt unser demokratisches System für Stabilität. Grosse Reformprojekte haben zwar einen langen Vorlauf; am Ende steht aber ein breit abgestützter Kompromiss, der auch über die nächsten Wahlen hinweg bestand hat.

Simonetta Sommaruga präsidiert im Jahr 2015 den Bundesrat. Die Bundesversammlung hat die 54-jährige Bernerin mit 181 von 210 gültigen Stimmen gewählt. Die Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD) folgt auf den FDP-Bundesrat Didier Burkhalter. Die Funktion wird jedes Jahr innerhalb der Regierung neu vergeben.

Justizministerin Sommaruga ist die fünfte Frau, die Bundespräsidentin wird. Ihre Vorgängerinnen hiessen Ruth Dreifuss (1999), Micheline Calmy-Rey (2007 und 2011), Doris Leuthard (2010) und Eveline Widmer-Schlumpf (2012).

(Quelle: SDA)

swissinfo.ch: Die Auslandschweizer sorgen sich um das drohende Ende der Personenfreizügigkeit, denn sie gilt nicht nur für die Einwanderung, sondern auch für die Auswanderung. Für die EU ist die Personenfreizügigkeit nicht verhandelbar. Kontingente lehnt sie dezidiert ab. Genau das verlangt jedoch die am 9. Februar 2014 angenommene Masseneinwanderungs-Initiative. Wie wollen sie das Land aus dieser Sackgasse führen?

S.S.: Sie haben Recht, die Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative ist anspruchsvoll. Der Bundesrat will den Auftrag der Stimmbevölkerung umsetzen, die Zuwanderung selbstständig zu steuern. Gleichzeitig will er aber auch den bilateralen Weg erhalten.

Die EU hat zwar gesagt, dass sie nicht über die Prinzipien des Freizügigkeitsabkommens verhandeln will. Sie hat ebenfalls signalisiert, dass sie offen sei für Diskussionen. Deshalb verfolgt der Bundesrat beide Ziele parallel, das innenpolitische und das aussenpolitische. Im Januar wird er über ein Verhandlungsmandat mit der EU und über die Umsetzungs-Gesetzgebung beraten.

swissinfo.ch: 2015 ist ein Wahljahr. Auch Auslandschweizer werden für den Nationalrat kandidieren, haben jedoch praktisch keine Chance, gewählt zu werden. Ist es für Sie denkbar, dass man den Auslandschweizern reelle Wahlchancen einräumt, indem man der Fünften Schweiz eine feste Anzahl Sitze zuteilt. Oder haben Sie eine andere Lösung?

S.S.: Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer sind auf Bundesebene den in der Schweiz wohnhaften Landsleuten gleichgestellt. Der Bundesrat hat die Förderung der Teilnahme der Auslandschweizerinnen und -schweizer an den politischen Rechten stets unterstützt und beispielsweise gerade kürzlich einen weiteren Entscheid zur schrittweisen Einführung der elektronischen Stimmabgabe gefällt.

Heute sind 135’000 Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer in einem Stimmregister eingetragen und nehmen ihre politischen Rechte und Pflichten wahr. Ich begrüsse das sehr, auch sie gehören zu unserem Land und zur schweizerischen Vielfalt.

swissinfo.ch: Die Tragödien von Asylsuchenden im Mittelmehr nehmen dramatisch zu. Was können die Schweiz und Europa tun, um diese Entwicklung zu stoppen?

S.S.: Sie sprechen es an: Ganz entscheidend ist die europäische Zusammenarbeit. Die Schweiz setzt sich stark für eine gemeinsame Migrationspolitik ein, denn alleine kann sie nur wenig erreichen. Wichtig ist die Hilfe vor Ort, damit die Menschen gar nicht erst den gefährlichen Weg übers Mittelmeer riskieren.

Zudem müssen wir weiterhin entschieden gegen Menschenschmuggel und Schlepper kämpfen – ein zynisches Geschäft mit den Schwächsten. Unter anderem sollen Asylsuchende hierzulande künftig systematisch befragt werden, um den Machenschaften auf die Spur zu kommen. Und schliesslich hat die Schweiz seit Ausbruch des Bürgerkriegs mehrere Tausend Syrerinnen und Syrer aufgenommen. Wir geben diesen Menschen eine neue Perspektive.

Sommaruga wurde 1960 in Zug geboren und wuchs im Kanton Aargau auf. Ihr Vater stammte aus dem Kanton Tessin.

1983 erwarb sie am Konservatorium Luzern ein Diplom als Konzertpianistin.

Nach Abbruch ihres Musikberufs und eines Studiums der englischen und spanischen Literatur in Freiburg übernahm sie 1993 die Direktion der Stiftung für Konsumentenschutz (SKS). 2000 wurde sie zu deren Präsidentin gewählt.

1986 trat sie der Sozialdemokratischen Partei bei. 2001 unterschrieb sie ein Manifest, in dem sie eine liberalere Linie für die Partei vorschlug. Dies provozierte heftige Reaktionen aus Gewerkschaftskreisen und dem linken Parteiflügel.

1999 wurde Sommaruga in den Nationalrat gewählt, 2003 schaffte sie den Einzug in den Ständerat für den Kanton Bern. 2010 wählte sie die Vereinigte Bundesversammlung in den Bundesrat.

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