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Calmy-Rey und Bin Laden: Ausrutscher oder Kalkül?

Aussenministerin MIcheline Calmy-Rey spricht an der Botschafterkonferenz am 25. August in Bern. Keystone

Die Erwähnung eines hypothetischen Dialoges mit Bin Laden in der Rede von Aussenministerin Calmy-Rey an der Botschafterkonferenz in Bern hat Staub aufgewirbelt. Eine rein rhetorische Frage, heisst es im Departement. Experten sind anderer Ansicht.

In ihrer Rede vor den versammelten Botschaftern plädierte die Aussenministerin am Montag für den Dialog als zentrales Instrument der Schweizer Aussenpolitik.

Bundesrätin Micheline Calmy-Rey stellte die Frage, ob man auf die “Moralisten” und die “Wohlmeinenden” hören soll, mit dem Risiko, in keinem Dossier voran zu kommen; oder ob man “den Dialog ohne Diskriminierung suchen soll – sogar mit Ossama Bin Laden”.

Sofort macht diese Aussage in den Medien die Runde. “Die Schweiz plädiert für einen Dialog mit Bin Laden”, titelt die französische Wochenzeitung Le Nouvel Observateur. “Die Schweizer Aussenministerin ist bereit, sich mit Bin Laden an einen Tisch zu setzen”, schreibt die renommierte französische Tageszeitung Le Monde.

Die französische Nachrichtenagentur AFP spricht sogar von einem Tabubruch. Die Schweiz wäre das erste demokratische Land, das einen Dialog mit Bin Laden ins Auge fasse, heisst es. Die AFP-Meldung wird in zahlreiche Sprachen übersetzt und geht in die ganze Welt hinaus, auch in die arabischen Länder.

Angesichts der Medienturbulenz und der entfachten Polemik veröffentlicht das Eidg. Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) am Dienstag eine Richtigstellung.

Ob man einen Dialog mit Bin Laden führen solle, sei eine “rein rhetorische” Frage der Aussenministerin gewesen, heisst es. Und weiter: “Die EDA-Vorsteherin hat niemals gesagt, dass sie einen solchen Dialog gutheissen würde, und sie hat einen solchen Dialog auch nie vorgeschlagen.”

Ein “extremes Beispiel”

Rhetorischer Ausrutscher oder kalkulierte Aussage? Der ehemalige Botschafter und Kommunikationsberater Raymond Lorétan ist der Ansicht, dass die Aussenministerin die Leute aufrütteln wollte. “Sie wollte auf dem Dialog insistieren und der Tatsache, dass die Schweiz Vermittlerin und Brückenbauerin sein muss. Sie hat dazu ein extremes Beispiel gewählt, es war ein schlechtes Beispiel.”

Für den Ex-Botschafter war es “ein offensichtlicher rhetorischer Ausrutscher”. Die Aussage sei aus dem Kontext ihrer Rede herausgenommen worden. “Und wenn man das Echo in Betracht zieht, war es ein unglücklicher Satz. Das EDA hat gut daran getan, eine Richtigstellung zu publizieren.”

An ein diplomatisches Kalkül glaubt Lorétan nicht. Die Schweizer Diplomatie und ihre Chefin hätten nicht versucht, sich damit beispielsweise in den arabischen Ländern zu profilieren.

“Es war eine extreme Provokation, um die Leute aufzurütteln und jenen zu antworten, welche die Aussenministerin wegen der einen oder anderen Aktion kritisiert hatten – Kolumbien und Iran. Das ist alles.”

Hände weg!

Der ehemalige EDA-Mitarbeiter und Nahost-Experte Yves Besson ist erstaunt, dass der Name Bin Laden in der schriftlichen Version der Rede Calmy-Reys erwähnt ist. “In einer gedruckten Rede, die an die Leute verteilt wird, sollte man so etwas nicht machen.”

Für Besson wollte die “provokative” Aussage der Aussenministerin lediglich – “en famille”, im Diplomatenkreis – eine Idee unterstreichen: “Man kann mit allen sprechen. Dahinter steckt kein Kalkül, es steckt meiner Meinung nach nichts dahinter.”

Pierre de Senarclens sieht mehr hinter der Aussage Calmy-Reys. Für den emeritierten Professor für internationale Beziehungen an der Universität Lausanne ist die Äusserung der Aussenministerin “nicht unbedingt ein Ausrutscher”. Sie habe das Gefühl, es sei möglich, mit jedem politischen Akteur zu sprechen, “gleich wer er auch sein mag”.

Inadäquate Aktion

Für De Senarclens war es richtig, dass das EDA eine Richtigstellung machte. “Ich glaube, die Berater sind teilweise besorgt um Calmy-Reys Eigeninitiativen. Das Departement hat vielleicht eine Aktion korrigiert, die – obwohl sicher im Voraus vorbereitet – nicht adäquat war.”

Gemäss De Senarclens ging es darum zu verhindern, dass man meinen könnte, das Aussenministerium werde von einer Person geführt, die das wirkliche Ausmass des Terrorismus von Bin Laden nicht einschätzen kann.

Es sei “sehr schwierig, illusorisch und absurd mit Bin Laden zu verhandeln, der mehr als pathologische Züge zeigt und dessen Denkweise sich jeglicher Logik entzieht”. Bei Hamas und Hisbollah sei die Ausgangslage anders.

Die arabischen Medien hätten die AFP-Agenturmeldung und teilweise auch die anschliessende Richtigstellung des EDA einfach übernommen, sagt Kamel Dhif, Leiter der arabischen Redaktion bei swissinfo.

Die Kommentare auf den Info-Websites seien unterschiedlich, “doch in der öffentlichen arabischen Meinung bleibt haften, dass sich die Schweiz von der unipolaren Welt abhebt. Vielleicht werden sich in zehn Jahren noch manche daran erinnern”, so Kamel Dhif.

Ein Lächeln, mehr nicht

Für Yves Besson hat die Aussage von Calmy-Rey keine grossen Auswirkungen auf die Diplomatie in der Region. “Die Aussage löste in der arabischen Welt Erstaunen aus. Wahrscheinlich wird am nächsten Diner mit Schweizer Diplomaten ein Vertreter eines arabischen Aussenministeriums das Thema mit einem Lächeln auf den Lippen ansprechen.”

Für mehr als ein Schmunzeln werde Calmy-Rey mit ihrer Aussage bei den Arabern nicht sorgen. “Mehr Aufmerksamkeit muss man dieser Geschichte auch nicht einräumen”, sagt Besson.

Mehr als die Glaubhaftigkeit der Schweiz könnte jedoch gemäss Ex-Botschafter Raymond Lorétan jene der Aussenministerin selber leiden. “Sie hätte genau dasselbe auf eine andere Art sagen können.”

In der Schweiz werde immer wieder die geheime Diplomatie mit der öffentlichen verwechselt. “Es muss nicht alles gesagt werden. Es gibt Dinge, die man machen muss, ohne sie an die Öffentlichkeit zu tragen. Diesbezüglich gibt es immer wieder Ausrutscher.”

swissinfo, Pierre François Besson
(Übertragung aus dem Französischen: Jean-Michel Berthoud und Corinne Buchser)

Die Aussenpolitik der Schweiz trägt durch Dialog, insbesondere mit gewissen islamistischen Gruppen, zur Konfliktlösung bei. Die Schweiz ist das einzige westliche Land, das die palästinensische Hamas nicht isoliert.

Micheline Calmy-Reys Aussenpolitik ist verschiedentlich in die Kritik geraten. So sorgte etwa die Schweizer Vermittlungsarbeit in Kolumbien jüngst für Spannungen.

Der Gasliefervertrag zwischen Iran und einer schweizerischen Elektrizitätsgesellschaft, der im März 2008 in Anwesenheit Calmy-Reys unterzeichnet wurde, rief vor allem in den USA eine Welle der Entrüstung herevor.

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