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Couchepin bittet die Patienten zu Kasse

Keystone

Mit einem Massnahmenpaket will der Bundesrat die steigenden Kosten im Gesundheitswesen in den Griff bekommen. Der Vorschlag einer Praxisgebühr von 30 Franken stösst auf besonders heftige Kritik.

Im Jahr 2008 stiegen die Kosten der obligatorischen Krankenversicherung auf 2983 Franken pro Fall. Dies ist eine Steigerung von 3,9% im Vergleich zum Vorjahr. Gesundheitsminister Pascal Couchepin sagte bei der Präsentation des Massnahmenpakets am Mittwoch, die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage habe bei den Versicherern zu zusätzlichen Verlusten geführt (800 Mio. Fr. nur im 2008) und ihre Reserven erheblich verkleinert.

Um die Kostensteigerung einzudämmen hat das von Bundesrat Pascal Couchepin geführte Eidgenössische Departement des Innern (EDI) mehrere gesetzliche Massnahmen vorgeschlagen, die vom Gesamtbundesrat abgesegnet wurden.

Drängen auf rasche Einführung

Der Couchepin möchte das Gesetzespaket auf Anfang 2010 in Kraft setzen. Er räumt allerdings ein, dass dies ein sehr ehrgeiziges Ziel sei.

Bereits Ende Mai soll die Botschaft zum Massnahmenpaket auf dem Tisch liegen. Am kommenden Montag lädt Couchepin unter anderem Vertreter der Patienten, Parteien, Ärzte, Kassen und Spitäler ein, um über die Massnahmen zu diskutieren.

Der Unmut bei den Eingeladenen jedoch ist gross. So erwägen die Sozialdemokraten, das Treffen zu boykottieren.

Telefonhotlines und Gebühren

Die wichtigsten Massnahmen sind laut Couchepin die Einführung einer kostenlosen Telefonberatung durch alle Krankenkassen, die Kompetenz der Regierung, die Arzttarife im Fall einer starken Kostenentwicklung zu senken, sowie die Einführung eines Behandlungsbeitrags von 30 Franken bei einem Arzt oder in einem Spitalambulatorium.

Die letztgenannte Massnahme gelte nur für die ersten sechs Konsultationen. Damit will Couchepin übermässige Kosten für Chronischkranke vermeiden. Davon befreit werden sollen auch Jugendliche bis 18 Jahre und schwangere Frauen. Chronisch Kranke sollen auch durch eine Reduzierung ihrer Kostenbeteiligung von 700 auf 600 Franken entlastet werden.

Zudem möchte der Bundesrat den Bundesbeitrag von rund zwei Mrd. Franken an die Prämienverbilligung in den Jahren 2010 und 2011 um zusätzliche 200 Millionen erhöhen.

Unwirksame Lösung

Die geplante Gebühr von 30 Franken pro Arztbesuch hält Margrit Kessler, Präsidentin der Schweizer Patientenvereinigung, gegenüber swissinfo für “völlig inakzeptabel”.

Ihrer Meinung nach wurden “die Krankenkassenprämien in den letzten Jahren nicht ordnungsgemäss erhöht, was die Reserven der Kassen vermindere.” Nun müssten die Patientinnen und Patienten unter den Folgen dieser verfehlten Politik leiden.

Die Vorteile dieses Vorschlags entwachsen könnten, wären höchstens minimal, sagt Kessler weiter. Wenn man die administrativen Kosten zur Erhebung dieser Gebühr aufrechne, bliebe nur ein kleiner Gewinn. Die Präsidentin der Patientenvereinigung hofft, “dass das Parlament diesen Vorschlag nicht akzeptieren wird.”

Kessler bejaht aufgrund der bisherigen positiven Erfahrungen hingegen die Einführung einer kostenlosen Telefonberatung. Diese sollte auch auf Albanisch und Türkisch angeboten werden. Denn “Mitbürger ausländischer Herkunft haben mehr Sprachprobleme. Aus Unsicherheit suchen sie deshalb oft schon wegen kleinerer Probleme das Spital auf.”

Kritik kommt von den Parteien …

Couchepins Massnahmen werden von vielen Parteien kritisiert. Die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) erklärt, der Innenminister zeige damit einmal mehr, dass er keine Ahnung von wirksamen Massnahmen zur Lösung des Problems der Kostenexplosion habe. Darüber hinaus bemängelt die SVP, das Massnahmenpaket sei ohne Berücksichtigung der Regeln der direkten Demokratie entstanden, ohne Anhörung aller Meinungen.

Zweifel über die Nützlichkeit einer Praxisgebühr von 30 Franken kommen auch aus Couchepins eigener Partei, der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP). Ständerat Felix Gutzwiller ist der Ansicht, der administrative Aufwand würde den grössten Teil der Einnahmen auffressen.

Sozialdemokraten und Grüne argumentieren, die Praxisgebühr sei kontraproduktiv. Sie verzögere den rechtzeitigen Besuch beim Arzt, was dann teurere Behandlungen nach sich ziehe.

Für die Grünen sollten statt Subventionen erhöht, Parallelimporte und ergänzende Therapien ermöglicht sowie mehr Generika verschrieben werden. Sie befürworten ein System, das Boni im Verhältnis zum Einkommen festlegt.

Die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) höhnt, “der Berg hat eine Maus geboren”. Bei den Massnahmen seien Generika nicht erwähnt, auch nicht die Schaffung von integrierten medizinischen Netzen (Managed Care).

… und Verbänden

Die Stiftung für Konsumentenschutz kritisiert, die Vorschläge belasteten nur einseitig die Patienten. Die Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH) bemängelt die Belastung, welche durch die zusätzliche Bürokratie entstände. Zudem widerspreche die Gebühr dem im Krankenversicherungsgesetz verankerten Geist der Solidarität.

Auch der Verband der Spitäler der Schweiz H+ bezweifelt die Wirksamkeit der vorgeschlagenen Massnahmen. Zudem würden die administrativen Kosten erhöht. Die Praxisgebühr von 30 Franken wird als gefährlicher staatlicher Eingriff taxiert. H+ weist auf entsprechende Erfahrungen in Österreich und Deutschland hin, die alles andere als ermutigend seien.

Andrea Clementi, swissinfo.ch
(Übertragung und Adaption aus dem Italienischen: Etienne Strebel)

2004 führte Deutschland für Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung eine Gebühr von 10 Euro ein, die von der ersten Arztkonsultation an ein Quartal Gültigkeit besitzt. Ausgenommen sind einige präventive Untersuchungen und Jugendliche unter 18 Jahren.

In den ersten zwei Jahren nach der Einführung dieser Gebühr ging die Zahl der Arztkonsultationen, die in Deutschland traditionell sehr hoch war, erheblich zurück (-8,7% zwischen Dezember 2003 und Dezember 2004).

Seit 2006 steigt die Zahl der Konsultationen wieder. Die Ursachen dafür werden derzeit untersucht.

Zurzeit bieten mehrere Krankenkassen eine Telefonbratung oder ähnliche Dienste an. Die Prämie verringert sich für den Versicherten, wenn er sich dazu verpflichtet, vor einer Arztkonsultation die Hotline zu kontaktieren.

In den skandinavischen Ländern und England sind Online-Beratungen und -Auskünfte sehr beliebt. In der Schweiz befinden sich solche Anwendungen meist noch in der Entwicklung.

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