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Das Ende der Konkordanz?

Eines ist heute klar: Mit der Abwahl von Bundesrat Christoph Blocher und dem Gang in die Opposition der SVP wird in der Schweiz vorerst einmal ohne Konkordanzsystem regiert.

Gemäss den Politologen muss dies jedoch nicht das definitive Ende der Konkordanz bedeuten. Die politischen Turbulenzen werden aber noch stärker ausfallen, sagt Oscar Mazzoleni.

Donnerstag, 13. Dezember 2007, 8 Uhr 10: “Ich erkläre Annahme der Wahl.” Mit diesen Worten der neu gewählten Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf ist nicht nur Bundesrat Christoph Blocher definitiv abgewählt, sondern auch eine Regierungsformel gesprengt worden, die in der Schweiz fast ein halbes Jahrhundert lang Gültigkeit hatte.

Ein politisches Erdbeben: Es ist, als wäre das Matterhorn eingestürzt.

Der Begriff “Opposition” bekommt damit in der Schweiz eine neue Bedeutung. Seit 1959 machten die Parteien, die nicht im Bundesrat vertreten waren, insgesamt nie mehr als 20% der Wählerstimmen aus.

Das hat sich nun geändert: Die Schweizerische Volkspartei (SVP), die nach Blochers Abwahl wie angekündigt in die Opposition geht, besitzt alleine fast 30% der Stimmen.

Wachsender Graben

Es steht nicht in den Genen der Schweizer “classe politique”, dass sie nur mit einem Konkordanzsystem – das eine ständige Kompromissfindung beinhaltet – eine effiziente Politik betreiben kann. Die Schweiz ist ein Land, das sich Veränderungen eher verschliesst und äusserst grossen Wert darauf legt, das institutionelle, föderale und kulturelle Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Doch auch die Schweiz muss sich an eine neue politische Realität anpassen können.

In den letzten Jahren hat sich mit der Polarisierung zwischen den rechten und linken Parteien eine Veränderung abgezeichnet: Der Graben zwischen den Regierungsparteien war zu gross geworden.

Die SVP nahm immer mehr eine Doppelrolle ein: Sie war Regierungs- und Oppositionspartei zugleich. Dies zeigte sich auch bei den Parlamentswahlen im Oktober, wo die SVP Oppositionspolitik betrieb und gleichzeitig für die Wiederwahl von Bundesrat Christoph Blocher warb.

“Es ist nicht neu, dass die SVP Oppositionspiele mag”, sagt Georg Lutz, Politologe an der Universität Bern. Seit rund 15 Jahren bekämpfe die Partei regelmässig mit Referenden die Parlamentsentscheide und mache sich über die “classe politique”, die Minister und sogar den SVP-Bundesrat Samuel Schmid lustig.

Abwahl mit vielen Ungewissheiten

Die Sozialdemokratische Partei (SP), die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) und die Grünen wollten Christoph Blocher nicht mehr im Bundesrat haben. Der Gang der SVP in die Opposition, der auf die Abwahl Blochers folgt, wirft jedoch zahlreiche Fragen auf.

Besteht das politische System in der Schweiz in Zukunft aus Regierung und Opposition, wie dies in den anderen europäischen Ländern der Fall ist?

“Das ist schwierig vorauszusagen. Wir befinden uns in einer Phase, mit vielen Ungewissheiten”, sagt der Politologe Oscar Mazzoleni, Dozent an den Universitäten Lausanne und Genf. Der Konkurrenzkampf, die Polarisierung und die Personalisierung würden in den nächsten Jahren auf jeden Fall noch zunehmen. “In Zukunft wird es zu noch viel grösseren politischen Turbulenzen kommen”, sagt Mazzoleni.

Eine grosse Ungewissheit ist auch, welche politischen Chancen die SVP in der Opposition hat. Es stellt sich die Frage, inwiefern die wählerstärkste und gut organisierte Partei Regierungs- und Parlamentsentscheide mit Volksinitiativen und Referenden, den Mitteln der direkten Demokratie, systematisch blockieren kann.

“Die SVP wird in Zukunft noch mehr Mittel in die Opposition investieren”, sagt Mazzoleni. Die Partei habe in den letzten Jahren auch in Wirtschaftskreisen Anhänger gefunden. “Betreibt die SVP Blockadepolitik, riskiert sie jedoch die Unterstützung dieser Mitglieder zu verlieren – und diese könnten alte Allianzen wieder herstellen.”

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“Stimmenkauf sind Grenzen gesetzt”

In Zukunft kann die SVP wieder voll auf Christoph Blocher zählen. Der von seinen Regierungsverpflichtungen “befreite” SVP-Leader könnte seiner Partei gar dazu verhelfen, ihren Wähleranteil noch auszubauen.

“Blocher wird der Partei vielleicht noch mehr Geld zur Verfügung stellen, damit sie Initiativen, Referenden und Wahlkampagnen durchführen kann. In einer Demokratie sind jedoch dem Stimmenkauf Grenzen gesetzt”, sagt Lutz. Die SVP könne schliesslich ihre Mitglieder nicht jeden Tag auf die Strasse schicken, um Unterschriften zu sammeln.

“Die SVP kann vielleicht in der Opposition noch an Wählern gewinnen, doch die zahlreichen Referenden und Initiativen könnten ihr zusetzen”, sagt auch Pascal Sciarini, Politologe an der Universität Genf. Dabei hange auch viel davon ab, wie die Regierungsparteien politisieren würden.

Enorme Herausforderung

Die Parteien, die weiterhin Regierungsverantwortung übernehmen – die SP, die CVP und die FDP – haben bis zu den nächsten Bundesratswahlen in vier Jahren Zeit, eine gemeinsame Plattform zu erarbeiten und neue Wege zu suchen, um den Wählerschwund der letzten Jahre zu stoppen.

Es wird eine enorme Herausforderung sein, gegen die Mobilisierung der SVP anzukämpfen, die durch Blochers Abwahl in gewisser Weise gestärkt hervorgeht, sagt Mazzoleni.

swissinfo, Armando Mombelli
(Übersetzung aus dem Italienischen: Corinne Buchser)

Nach der Geburt des modernen Bundesstaates im Jahr 1848 besetzte die Freisinnig-Demokratische Partei während vier Jahrzehnten alle sieben Bundesratssitze.

Erst im Jahr 1891 konnte zum ersten Mal auch die Christlichdemokratische Volkspartei (früher Katholisch-Konservative Volkspartei) einen Bundesrat stellen.

Die Schweizerische Volkspartei (früher Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei) trat erstmals 1929 der Regierung bei.

Die Sozialdemokratische Partei erhielt ihren ersten Sitz in der Regierung im Jahr 1943.

Seit 1959 setzt sich die schweizerische Regierung immer aus diesen vier Parteien zusammen, die rund 80% der Wählerstimmen auf sich vereinen.

Zu Beginn jeder Legislatur versammelt sich das Parlament zur Wahl der sieben Mitglieder des Bundesrats. Normalerweise werden alle wiedergewählt, ausser bei einem Rücktritt eines Mitglieds.

Nur in den Jahren 1854, 1872, 2003 und 2007 bestätigte die Vereinigte Bundesversammlung die Wiederwahl eines Regierungsmitglieds nicht.

2003 musste Ruth Metzler von der CVP ihren Sitz räumen und dem Vertreter der SVP, Christoph Blocher, Platz machen.

Vier Jahre später muss nun Christoph Blocher seinen Sitz räumen: Am letzten Mittwoch hat die Mehrheit der Vereinigten Bundesversammlung statt dem SVP-Bundesrat der Bündner SVP-Regierungsrätin Eveline Widmer-Schlumpf die Stimme gegeben.

Nach einer Nacht Bedenkzeit nahm Eveline Widmer-Schlumpf die Wahl am Donnerstag an.

Die SVP geht nach der Abwahl Blochers wie angekündigt in die Opposition.

Obwohl sowohl Eveline Widmer-Schlumpf als auch Samuel Schmid der SVP angehören, hat die Partei am Donnerstag offiziell bekannt gegeben, dass sie die beiden Bundesräte aus der SVP-Fraktion ausschliesst.

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