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Das grosse Überbacken

An der Schweizer Käse-Theke auf der Feinkost-Etage des KaDeWe gibt es fünf Sorten Raclette-Käse. Lena Langbein

Je bunter, desto besser! Im Raclette-Pfännchen schmilzt Käse auf Paprika, Schinken und Ananas, auf der Teflon-Platte darüber brutzeln Hackfleisch-Bouletten und Eier. Was für viele Deutsche nach einem typischen Raclette-Abend klingt, ist für Schweizer Gourmets ein Graus.

Mitten auf dem Tisch ein elektrisches Monstrum: ovale Teflon-Grillplatte, acht Pfännchen – ein Raclette-Grill. Drumherum: Käse- und Schinkenplatten, dazu Pellkartoffeln, diverse Salate, Dips und Sossen.

 

In der Weihnachtszeit oder zu Silvester holen viele Deutsche ihre Raclette-Geräte hervor und laden Freunde zum stundenlangem Pfännchen-Befüllen und Gemüse-Braten. Sie “machen Raclette”. Denn wie Gemüse, Schinken und Käse verschmelzen hier auch oft die Begriffe, und zwischen Käse, Ofen und dem Drumherum wird nicht weiter unterschieden – alles ist “Raclette”.

Wie einst bei den Schweizer Bergbauern geht es auch an deutschen Raclette-Abenden um das gesellige Beisammensein. Im Gegensatz zum Original dreht sich dabei aber längst nicht alles um den Käse. Was zählt, sind die Vielfalt und die Kreativität der Beilagen. 

“All das ist für Schweizer natürlich ein Graus”, sagt ein in Deutschland lebender Schweizer, der nicht namentlich genannt werden will. “Raclette ist in Deutschland ein grosses Überbacken. Oft wird dazu auch gar kein Raclette-Käse benutzt, sondern irgendetwas anderes wie zum Beispiel holländischer Gouda.”

Grösster Importeur von Schweizer Raclette

Trotzdem kommen in Deutschland grosse Mengen vom Schweizer Original auf die Pfännchen. Fast 600 Tonnen Raclette-Käse exportierte Raclette Suisse, der Verein der Schweizer Hersteller von Raclette-Käse, im Jahr 2009 nach Deutschland. Den Grossteil davon im November und Dezember.

Das ist natürlich nicht zu vergleichen mit den rund 14’000 Tonnen Raclette-Suisse, die jährlich in der Schweiz verspeist werden. Aber Deutschland ist damit immerhin der grösste ausländische Absatzmarkt für Schweizer Raclette-Käse.

Im noblen Kaufhaus KaDeWe in Berlin gehen übers Jahr pro Woche rund zehn Laib Raclette über die Käse-Theke. Allein in den vier Dezember-Wochen steigt der Umsatz auf 100 Laib. 98% Prozent des Raclette, den die Schweizer Käse-Theke im KaDeWe im Angebot hat, stammen aus eidgenössischer Produktion.

“Und unsere Kunden wissen genau, was sie wollen”, sagt Marcus Porcuzek, Abteilungsleiter in der Feinkost-Etage des KaDeWe. “Sie bestellen zum Beispiel 1,8 Kilogramm Raclette und 600 Gramm Appenzeller in Scheiben à 2 Millimeter. Jeder Kunde bevorzugt eine individuelle Schnittstärke!”

Porcuzeks Erfahrung nach besitzen die meisten deutschen Raclette-Liebhaber ein Gerät mit Pfännchen, das KaDeWe vermietet aber auch richtige Raclette-Öfen, in den man einen halben Laib Käse einspannen kann.

Raclette auf dem Weihnachtsmarkt

“Gute Raclette-Leute reden über Bergkäse, nicht über die Pfännchen”, sagt wiederum Herbert Olbrich. Der Schwarzwälder betreibt auf dem Weihnachtsmarkt am Gendarmenmarkt in Berlin Mitte seit vier Jahren einen Raclette-Stand. Hier gibt es Raclette vom Laib wahlweise auf Kartoffeln oder einer Scheibe geröstetem Brot.

“Wie in den Walliser Alpen”, so Olbrich. Auch er bezieht seinen Käse hauptsächlich aus der Schweiz – 1,5 Tonnen Bergkäse schmelzen hier in den sechs Wochen während des Weihnachtsmarktes.

“Raclette liegt im Trend und wird von Jahr zu Jahr beliebter”, sagt Olbrich. “Manche Leute kommen extra wegen des Raclettes auf den Weihnachtsmarkt. Es gibt sogar eine Facebook-Community, über die bis zu 80 Leute pro Tag an unseren Stand kommen.”

Was ist denn das für ein Käse?

Auch im Restaurant “La Raclette” in Berlin Kreuzberg gibt es “Bratchäs” nach alter Schweizer Bergbauern-Tradition. Neben den Raclette-Grills, in welche die Käsehälften eingespannt werden, gibt es hier sogar einen Kamin. “Für die authentische Atmosphäre”, sagt Peer Kusmagk, der Inhaber des “La Raclette”.

Kusmagk serviert zum Raclette gedünstetes Gemüse und sauer eingelegte Gurken; Rinderfilet und Poulardenbrust veredeln die Spezialität des Hauses. 


Das “La Raclette” ist nicht nur im Winter gut besucht. Eine Woche im Voraus muss man reservieren, wenn man hier essen möchte. Für viele Gäste ist der Besuch in Kusmagks Restaurant jedoch die erste Begegnung mit Raclette nach Original-Rezept.

“Gerade die, welche zum ersten Mal herkommen, sind oft sehr überrascht”, sagt Kusmagk. “Vielen ist nicht einmal bewusst, dass Raclette ein eigener Käse ist.”

 

Kusmagk ist jedoch überzeugt, dass alle, die hier einmal gegessen haben, ihre Teflon-Pfännchen nie wieder verwenden werden. “Wir haben schon überlegt, ob wir hier nicht auch eine Raclette-Grill-Recycling-Station aufmachen sollen”, sagt er.

Der Begriff “Raclette” stammt vom französischen “racler” – schaben, kratzen. Neben dem Fondue gilt Raclette als eines der Schweizer Nationalgerichte. Aber auch die Franzosen erheben Anspruch auf die Erfindung des Raclette.

Erstmals erwähnt wurde Raclette wohl in mittelalterlichen Klosterhandschriften aus den Kantonen Obwalden und Nidwalden, wo von einem “Bratchäs” als einer Speise der Alphirten berichtet wird. Auch die Sagengestalt Wilhelm Tell soll den “Bratchäs” schon 1291 genossen haben.


Ursprünglich wurde der Raclette-Käse am offenen Feuer geschmolzen und die weich gewordene Masse nach und nach auf den Teller gestreift. Ab den 1960er-Jahren wurden verschiedene elektrische Raclette-Öfen und Geräte entwickelt, mit denen man den Käse auch ohne offenes Feuer am Tisch schmelzen kann.

Wie das Schweizer Bundesgericht 2007 nach einem langen “Raclette-Streit” entschieden hat, bezeichnet der Begriff “Raclette” ein Gericht und nicht eine Käsesorte. Der Walliser Milchverband hatte zuvor versucht, den Begriff exklusiv für Käse zu reservieren, der im Wallis aus Rohmilch hergestellt wird.


Gleichzeitig wurde aber die geschützte Bezeichnung “Raclette du Valais AOC” eingeführt.

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