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Kleine Unternehmen, grosse Innovationen: Schweizer Startups

Das Schweizer Armband, das die Technologie-Giganten neidisch macht

Drei Männer
Von links nach rechts: Mattia Bertschi, Olivier Grossenbacher und Josep Sola, drei Ingenieure, die hinter einer neuen Technik zur Blutdruckmessung stehen. swissinfo.ch

Das Schweizer Startup Aktiia hat gerade das erste smarte Armband auf den Markt gebracht, das den Blutdruck kontinuierlich messen kann. Dank dieser Innovation aus Neuenburg steht die Schweiz an der Spitze eines Markts, der bei den amerikanischen und asiatischen Tech-Giganten heiss begehrt ist.

Ein “stiller Killer”: So beschreibt die Weltgesundheits-Organisation (WHO) den arteriellen Bluthochdruck. Diese chronische Krankheit, die das Risiko für Schlaganfall und Herzinfarkt erhöht, ist weltweit die Todesursache Nummer eins (fast sieben Millionen Todesfälle pro Jahr).

Bluthochdruck ist zwar behandelbar, aber nicht einfach erkennbar. Es gibt keine spezifischen Symptome oder Anzeichen, an denen man erkennen kann, ob jemand Bluthochdruck hat oder nicht. Schätzungen zufolge leidet weltweit ein Drittel der Erwachsenen an Bluthochdruck, aber die Hälfte der Betroffenen weiss es gar nicht.

Wer herausfinden will, ob er oder sie betroffen ist, muss zum Arzt oder Apotheker gehen, wo mit Hilfe einer aufblasbaren Manschette am Arm der maximale (systolische) und der minimale (diastolische) Blutdruck gemessen wird.

Diese Diagnose-Methode hat sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts kaum verändert. Sie hat den grossen Nachteil, dass sie nur punktuelle Ergebnisse liefert, die zudem durch den Stress des medizinischen Umfelds – bekannt als “Weisskittel”-Effekt – beeinflusst werden können.

15 Jahre Forschung

Doch all dies könnte bald einmal der Vergangenheit angehören. Das Schweizer Startup Aktiia mit Sitz in Neuenburg hat das erste smarte Armband entwickelt, mit dem der arterielle Blutdruck kontinuierlich gemessen werden kann, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche.

Die Technologie, eine optische Blutdruck-Überwachung, verwendet eine Lichtquelle, die in die subkutanen Blutgefässe “vordringt”, um die Veränderung des arteriellen Durchmessers bei jedem Herzschlag zu analysieren. Diese wird dann von einem Sensor am Armband erfasst.

Die gesammelten Daten werden an eine Smartphone-App übertragen. Dort kann die Benutzerin, der Benutzer des Armbands die Daten einsehen und wenn erwünscht auch mit dem Arzt oder anderem Pflegepersonal teilen.

Armband
Das Aktiia-Armband wurde als eine Art diskretes “Schmuckstück” entworfen, um seine Trägerin, seinen Träger nicht zu stigmatisieren. Aktiia

“Hinter der Entwicklung dieser Technologie liegen 15 Jahre Forschung. Danach folgten zweieinhalb Jahre Entwicklungszeit, um aus dieser Erfindung ein Medizinprodukt zu entwickeln, das mit dem CE-Label [Europa-Konformität] zertifiziert ist, was uns die Tür zur Vermarktung in fast 40 Ländern öffnet”, sagt Olivier Grossenbacher, Leiter Forschung und Entwicklung bei Aktiia.

Die ersten Armbänder sind seit dem 26. Januar in Grossbritannien zu einem Stückpreis von 159 Pfund (196 Franken) im Handel. Sie richten sich an Menschen zwischen 40 und 65 Jahren, die an Bluthochdruck leiden oder gefährdet sind.

Die Vermarktung in weiteren europäischen Ländern ist für die nächsten Monate geplant. Wer das Armband in der Schweiz kaufen möchte, muss sich noch ein paar Monate länger gedulden.

Seit einer Gesetzesänderung im Jahr 2017 wird die Schweiz bei der Vermarktung von Medizinprodukten nicht mehr wie ein Mitglied der Europäischen Union behandelt.

Aktiia muss einen offiziellen Importeur auf europäischem Boden haben, um seine Armbänder dort verkaufen zu können.

“Wir sind dabei, eine Niederlassung in den Niederlanden zu eröffnen, aber es dauert sehr lange, da es viele bürokratische Hürden gibt”, sagt Mattia Bertschi.

Die Verhandlungen über die automatische Anerkennung zwischen der Schweiz und der EU stehen derzeit still. “Wir haben den unglücklichen Eindruck, dass wir in breiteren politischen Diskussionen gefangen sind. Die Blockaden beim Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU wirken sich zu unseren Ungunsten aus. Für ein kleines Unternehmen wie unseres, das sein erstes medizinisches Gerät auf den Markt bringt, ist es im Moment wirklich sehr kompliziert”, bedauert der Mitgründer von Aktiia.

Kein weiteres “Gadget”

“Für ein kleines Unternehmen wie das unsere erfordert die Übersetzung viele Ressourcen. Da Englisch die gemeinsame Sprache der 22 Aktiia-Angestellten ist, die in der Schweiz, in Serbien und in den USA arbeiten, entschieden wir uns, in einem englischsprachigen Land zu beginnen. Danach werden wir uns dem französischen, deutschen und italienischen Markt zuwenden und schliesslich der Schweiz mit ihren drei Amtssprachen”, sagt Mattia Bertschi, einer der Mitgründer von Aktiia.

Das Produkt ist sehr diskret und hebt sich von smarten Uhren und Armbändern ab, mit denen sich heute alle möglichen Parameter rund um Gesundheit, Schlaf oder Fitness messen lassen.

“Wir haben den radikalen Entscheid getroffen, nur einen Parameter zu messen und die Daten nicht auf einem Bildschirm am Armband anzuzeigen. Das ist ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zu all den ‘Gadgets’, die auf dem Markt für vernetzte Geräte im Bereich Gesundheit florieren”, sagt Bertschi.

Ein Markt, der auch für die Tech-Giganten Google, Amazon, Facebook, Apple (abgekürzt GAFA) und ihre asiatischen Rivalen wie Samsung und Huawei von wachsendem Interesse ist. Der Blutdruck galt schon immer als eine Art Heiliger Gral bei digitalen Gesundheits-Anwendungen.

Das liegt zum einen an der Schwierigkeit der Messung, aber auch an der riesigen Zahl potenzieller Patientinnen und Patienten, die man “erobern” kann – die WHO schätzt, dass weltweit 1,5 Milliarden Menschen an Bluthochdruck leiden.

Eine Idee aus dem CSEM in Neuenburg

“Wie ein kleines Startup die Technologie-Riesen der Welt schlägt, um ein Produkt auf den Markt zu bringen, das die Spielregeln für den Blutdruck verändert”, titelte das Magazin Forbes kürzlich in einem begeisterten ArtikelExterner Link über Aktiia.

Ja, wie konnte ein kleines Startup in Neuenburg den multinationalen Konzernen zuvorkommen, welche die besten Ingenieure der Welt anziehen und Jahr für Jahr Dutzende Milliarden Dollar in Forschung und Entwicklung ihrer Produkte investieren?

“Auch wenn einem alles Geld der Welt zur Verfügung steht, gibt es eine Sache, die man nicht kaufen kann: Zeit.”

Mattia Bertschi, Mitgründer Aktiia

Aktiia gewann das Rennen nicht durch Tempo, es war einfach sehr viel früher gestartet. “Auch wenn einem alles Geld der Welt zur Verfügung steht, gibt es eine Sache, die man nicht kaufen kann: Zeit. Und wir hatten lange vor allen anderen mit der Arbeit an dieser Technologie begonnen und danach einen sehr aufwendigen Test- und Validierungsprozess erfolgreich hinter uns gebracht”, sagt Bertschi.

Ohne die Hilfe des Schweizer Zentrums für Elektronik und Mikrotechnologie in Neuenburg (CSEM), eines auf Technologietransfer in die Industrie spezialisierten Forschungsinstituts mit mehr als 500 Mitarbeitenden, wäre das vernetzte Armband der Aktiia nicht Realität geworden.

Mattia Bertschi, Josep Sola, der andere Mitgründer von Aktiia, und Olivier Grossenbacher arbeiteten am CSEM gemeinsam an dieser neuen Blutdruck-Messtechnologie, bevor sie ihre eigene Firma gründeten, um das Armband auf den Markt zu bringen. “Das CSEM ist eine sehr kreative Umgebung, in der man als Ingenieur wirklich Spass haben kann”, bemerkt Bertschi.

Das Startup Aktiia wurde 2018 von Mattia Bertschi und Josep Sola gegründet, zwei ehemaligen Mitarbeitern des Schweizer Zentrums für Elektronik und Mikrotechnologie (CSEM) in Neuenburg.

Das Unternehmen verfügt über Kapital von Investoren aus der Schweiz und den USA. Eine erste Finanzierungsrunde 2018 brachte Aktiia 4 Mio. Franken ein, in einer zweiten Runde im März 2020 kamen weitere 6 Mio. dazu.

Die am CSEM entwickelte und patentierte Technologie, die in den Armbändern von Aktiia zum Einsatz kommt, wurde 2017 mit dem Neode-Preis für die beste technisch-medizinische Innovation in der Schweiz ausgezeichnet.

Übernahme unvermeidlich

Aktiia ist nicht das einzige Schweizer Startup, das im Bereich Medtech tätig ist und von der vom CSEM lizenzierten Technologie profitiert: Das Waadtländer Unternehmen BiospectalExterner Link hat zum Beispiel ein System entwickelt, mit dem man den Blutdruck überprüfen kann, indem man einen Finger auf die Kamera eines Smartphones legt.

Und das Zürcher Startup AVA hat ein Armband entwickelt, das die fruchtbaren Tage im Zyklus von Frauen mit hoher Präzision erkennen kann.

Ein anderes Zürcher Startup, Biovotion, hat ein Messgerät entwickelt, das am Oberarm getragen wird. Es kann eine Vielzahl von Parametern messen wie Herzfrequenz, Sauerstoffsättigung oder Ausdehnung und Kontraktion der Blutgefässe.

Biovotion wurde vor etwas mehr als einem Jahr von der Gruppe Biofourmis aus den USA übernommen, die sich auf personalisierte und digitale Medizin spezialisiert hat.

“Früher oder später werden auch wir an der Reihe sein. Es liegt in der DNA eines jeden Startups, letztlich aufgekauft zu werden”, sagt Bertschi.

In der Zwischenzeit freuen sich die beiden Aktiia-Mitbegründer über die vielen Anfragen und Bitten um Zusammenarbeit von Seiten der Tech-Giganten. Es ist eine grosse Anerkennung für diese Familienväter, die über die Jahre viel von ihren Ersparnissen und ihrer Zeit investiert haben, um eine Anwendung zu entwickeln, die eines Tages vielleicht Tausende von Leben retten wird.

(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

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