Seit 1991 setzt sich dieser Schweizer für Rumänien ein

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs bewarb sich Stephan Büchi für einen Kurzeinsatz in einem rumänischen Kinderheim. Damit begann ein lebenslanger Einsatz für benachteiligte Menschen und eine demokratische Gesellschaft.
«Ich mache mir grosse Sorgen um meine zweite Heimat», sagt Stephan Büchi am Morgen nach dem ersten Wahlgang der rumänischen Präsidentschaftswahlen. Wir treffen uns in einem Kaffeehaus unweit des Hauptquartiers der nationalen Wahlbehörden.
«Der Aufstieg extremer Kräfte ist kein gutes Zeichen», sagt Stephan Büchi mit tiefen Sorgenfalten im Gesicht, das aber schon Sekunden später ein leichtes Lächeln zeigt.
«Aber wie ich die Rumäninnen und Rumänen kenne, werden sie auch diese Krise meistern», sagt der 65-jährige, der je die Hälfte seiner Zeit in Rumänien und in der Schweiz verbringt.
Die knapp 19 Millionen Rumäninnen und Rumänien in und ausserhalb des Landes hätten am 24. November 2024 eigentlich die Nachfolge des seit 2014 amtierenden Staatspräsident Klaus Johannis wählen sollen.
Im ersten Wahlgang schafften es der der rechtsextreme Kandidat Călin Georgescu und die liberale Anwärterin Elena Lasconi in die Stichwahl. Das rumänische Verfassungsgericht annulierte jedoch die Wahl wegen angeblicher «russischer Interventionen», worauf der ganze Präsidentschaftswahlprozess neu gestartet werden musste.
Die erste Runde findet nun am 4. Mai statt, eine allfällige Stichwahl am 18. Mai 2025. Nicht mehr antreten darf dabei Georgescu, dessen erneute Kandidatur von der Wahlkommission und dem Verfassungsgericht für ungültig erklärt worden ist.
Stephan Büchis rumänische Lebensreise begann vor über drei Jahrzehnten. Nach ersten Berufsjahren als Sozialarbeiter in der Gemeinde Köniz und am Berner Jugendgericht suchte der damals Anfang dreissig stehende Büchi eine neue berufliche Herausforderung.
Wie der Schweizer 1991 nach Bukarest kam
So bewarb sich Büchi bei verschiedenen Organisationen für eine Tätigkeit im Ausland. «Ich dachte eigentlich an einen Einsatz in Afrika, da ich in der Schweiz zweisprachig deutsch-französisch aufgewachsen bin, meine Mutter stammt aus dem Berner Jura.»
Schliesslich bekam er eine Anstellung bei der Stiftung Kinderdorf Pestalozzi Trogen, für welche Büchi, gemeinsam mit einer Schweizer Kollegin, mehrere Kinderheime in Bukarest und Umgebung beraten und begleiten sollte.
Nach einer abenteuerlichen Autofahrt über mehrere tausend Kilometer traf Büchi im Frühjahr 1991 in Rumänien auf eine ganz andere Wirklichkeit als in seiner schweizerischen Heimat.
«In den damals in staatlicher Regie hierarchisch geführten Institutionen lebten mehr als hundert Kinder zusammen und wurden im Kollektiv erzogen. Sie hatten kaum persönlichen Gegenstände und ihnen wurde beim Eintritt ins Kinderheim der Kopf kahlgeschoren. Rund um die Heime gab es viele Strassenhunde, gegen die sich die Kinder verteidigen mussten oder welche das Heim gegen Aussenstehende verteidigten.»

Tatsächlich sorgten die «Kinder-Gulags», die nach dem Sturz des kommunistischen Diktators Ceaușescu zu Beginn der 1990er-Jahre durch die Medien gingen, weltweit für viel Aufsehen und lösten, so Stephan Büchi, «einen wahren Run von Hilfsorganisationen in Richtung Rumänien aus».

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Statt aber einfach nach einem kurzen Aufenthalt vor Ort, einigen guten Ratschlägen an die überforderten Behörden und der Verteilung von Hilfsgütern wieder nach Hause zu fahren, entschied sich Büchi, zu bleiben: «Die Lebensfreude der Kinder unter diesen sehr schwierigen Umständen war erstaunlich und ansteckend.»
Einziger Mann im Mädchenheim
Als einziger Mann und Ausländer in einem Heim für junge Mädchen setzte sich Stephan Büchi fortan nicht nur für die Verbesserung der Einrichtung ein, organisierte zum Beispiel neue Betten und individuelle Schrankabteile für jedes Kind oder liess die Wäscherei und die Sanitärinstallationen modernisieren.
Auch nutzte er seine in der Schweiz gewonnenen Erkenntnisse als Sozialarbeiter: «Es ging darum, jedes einzelne Kind als Individuum zu sehen und zu fördern und Dinge zu unternehmen, welche die Mädchen in die Verantwortung nimmt.»

Unter anderem gründete er eine von den Kindern und Jugendlichen selbst geführte Zeitung und organisierte mit ihnen zusammen Ausflüge und Lager.
«In meiner Werkzeugkiste aus der Schweiz befanden sich viele spielerische und teamstärkende Methoden, die ich auch aus meiner Zeit als Leiter der Pfadi in Köniz nach Rumänien mitgenommen hatte.»
«Stephan brachte viele neue und frische Ideen mit nach Rumänien, wo Kinderheime damals einem strikten staatlichen Regime unterlagen», erzählt Claudia Stefanescu, eine von Büchis ersten rumänischen Arbeitskolleginnen.
Weiter sagt sie: «Was mich besonders beindruckte, war Stephans Fähigkeit, die Möglichkeiten einzelner Mädchen zu erkennen und diese konkret zu fördern.» Dabei kam Stephan Büchi zugute, dass er sehr schnell Rumänisch lernte.
«Stephan ist wie ein Vater für mich»
Als die direkte Unterstützung durch die Pestalozzi-Stiftung zur Jahrtausendwende auslief, gründete Stephan Büchi zusammen mit Freunden in der Schweiz und Rumänien ein eigenes Hilfswerk zur Unterstützung benachteiligter Kinder und Jugendlicher im Land.
«Wir organisierten Wohnungen, in denen Jugendliche nach dem Austritt aus dem Kinderheim gemeinsam leben konnten, sprachen mit Schulen und Arbeitsgebern, finanzierten Studien und Ausbildungen», erzählt Büchi, der mit zahlreichen seiner ehemaligen Heimkinder immer noch in einem engen Kontakt steht.
«Stephan ist wie ein Vater für mich und hat mich in all diesen Jahren unterstützt», sagt etwa Adriana Anghel.

Sie kam als junges Waisenkind in ein von Pestalozzi und Stephan Büchi betreutes Kinderheim südlich von Bukarest und durchlief später mit dessen Unterstützung – «Er half uns bei den Hausaufgaben» – erfolgreich die Schulen und bildete sich zur Krankenschwester aus.
Heute steht die 42-jährige Anghel auf eigenen Füssen, arbeitet seit einigen Jahren in einem Londoner Spital – «Stephan finanzierte mir den Flug zum Bewerbungsgespräch» – ist verheiratet und hat einen dreijährigen Sohn.
Vom postkommunistischen Armenhaus zum EU-Wirtschaftsmotor
Seit der erstmaligen Ankunft Stephan Büchis hat Rumänien eine vielbeachtete Entwicklung durchlaufen: So hat sich das Bruttoinlandprodukt des Landes pro Kopf laut Weltbank seit 1995 fast vervierfacht.
Heute gehört das 238‘000 Quadratkilometer grosse Land mit knapp zwanzig Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern gemäss einer Untersuchung der Österreichischen Wirtschaftskammer zu den «stabilsten Volkswirtschaften der Europäischen Union».
Seit Anfang 2025 ist Rumänien Vollmitglied des Schengen-Raums: «Ein bahnbrechender Moment», erklärte der rumänische Finanzminister Marcel Boloș anlässlich der damit verbundenen Einstellung von Grenzkontrollen zu den EU-Nachbarländern im Süden und Norden.
Nach dem gewaltsamen Sturz des kommunistischen Diktators Ceaușescu kam es im Mai 1990 zu den ersten freien Wahlen im Land.
Im gleichen Herbst hatte die Europäische Gemeinschaft ein Handels- und Kooperationsabkommen mit Rumänien geschlossen.
Am 1. Februar 1995 trat ein Assoziierungsabkommen in Kraft. Anfang 2000 begannen die EU-Beitrittsverhandlungen und wurden 2004 abgeschlossen. Im gleichen Jahr trat es der Militärallianz Nato bei und wurde 2007 zum Mitglied der Europäischen Union.
«Wir stehen heute gesellschaftlich und wirtschaftlich viel besser da als vor drei Jahrzehnten», betont Stefan Stancu, Besitzer einer Bukarester Handelsfirma für den Import und Export von Trockenfrüchten im Gespräch mit SWI swissinfo.ch.
Er lernte Büchi zur Jahrtausendwende kennen und engagierte sich in mehreren Förderprojekten des Schweiz-Rumänen: «Diese Arbeit lehrte mich und viele andere hier, wie wichtig ehrenamtliche Engagements und Freiwilligenarbeit in einer modernen Gesellschaft sind.»
Wie die langjährige Arbeitskollegin Stefanescu oder das ehemalige Waisenkind Anghel – so gehört auch der Geschäftsmann Stancu zu jenen Personen in Rumänien, die durch Stephan Büchis geduldiges Wirken in ihrem Selbstbewusstsein und Wissen so gestärkt wurden, dass sie heute als verantwortungsbewusste Mitglieder zu einer demokratischen Gesellschaft im Wandel beitragen können.
Förderprojekte der EU und der Schweiz
Wegen seiner langen Erfahrung und seines breiten Netzwerkes in Rumänien begann Stephan Büchi sich nach dem rumänischen EU-Beitritt auch in Kooperationsprojekten der EU und der Schweiz im Land als Berater und Evaluator zu engagieren.
«Ich habe ihn als sehr profesionellen, kompetenten und engagierten Fachmann kennengelernt», sagt der Schweizer Diplomat Thomas Stauffer, der zwischen 2010 und 2016 das Büro des Schweizer Erweiterungsbeitrags in Rumänien leitete und heute die gleiche Funktion in der bulgarischen Hauptstadt Sofia einnimmt.
Für die Schweiz evaluierte Büchi zur Jahrtausendwende mehrere sozialpädagogische Jugendprojekte. Später beriet er im Auftrag der EU das rumänische Erziehungsministerium zu Fragen des Familienschutzes und der Kinderrechte.
«Es ging darum, lokale Behörden, Ärzte und Lehrer für den Zugang zu therapeutischen Angeboten für Kinder aus abgelegenen Gebieten zu sensibilisieren», erklärt er die Tätigkeit.

Laut Stephan Büchi unterscheidet sich die Schweizer Förderpolitik von jener der EU: «Die Schweiz nimmt es genauer mit der Auswahl und überwacht besser, wo und wie die Gelder möglichst effizient eingesetzt werden können.»
Stephan Büchi bleibt am Ball
Büchis rumänische Weggefährt:innen betonen gegenüber SWI swissinfo.ch, wie beindruckend für sie «Studienbesuche» in der Schweiz waren, welche Büchi und sein Verein organisierten.
«Auf diesen Reisen erlebte und spürte ich, wie eine funktionierende Demokratie auch mit schwierigen Fragen umgehen kann», sagt Stefan Stancu und bezeichnet die in der Schweizer Verfassung verankerte Aufgabe zur «internationalen Demokratieförderung als wichtigste Aufgabe der Schweiz in der heutigen Zeit».
Auch in Rumänien: Im Mai steht die Neuauflage der Ende 2024 für ungültig erklärten Präsidentschaftswahl an.
Stephan Büchi bleibt am Ball: Auch wenn er sich gerade in der Schweiz aufhält, schaut er jeden Abend vor der Tagesschau des Schweizer Fernsehens SRF die Hauptnachrichtensendung des öffentlich-rechtlichen Senders Televiziunea Română.
Und statt rumänische Kolleg:innen zu Studienreisen in die Schweiz einzuladen, gründete er vor einigen Jahren ein Ein-Mann-Reisebüro und begleitet interessierte Einzelpersonen und Kleingruppen an verschiedene Orte in Rumänien – und setzt damit seine langjährige Tätigkeit als Brückenbauer und seinen geduldigen Einsatz für ein demokratisches Rumänien fort.
Editiert von Mark Livingston

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