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Demokratiebarometer zeigt Schweizer Grenzen auf

Schwächelnde Partizipation: Viele Schweizer Bürger geben den Abstimmungszettel freiwillig aus der Hand. Keystone

Defizite bei Transparenz, Gewaltenkontrolle und Partizipation: die Schweiz belegt unter den 30 besten Demokratien nur Platz 14. Sie weise aber die grössten Fortschritte auf, so die Entwickler eines neuen Instruments zur Messung der Demokratiequalität.

Auf dem Demokratiebarometer, das Politologen der Universität Zürich und des Wissenschaftszentrums Berlin gemeinsam entwickelt haben, liegen Dänemark, Finnland und Belgien an der Spitze. Mit Island, Schweden und Norwegen folgen weitere nordische Länder.

Hinter den zehntplatzierten USA, Deutschland, Neuseeland und Slowenien rangiert die Schweiz lediglich auf dem 14. Platz.

Den Schluss des Rankings bilden Grossbritannien, Frankreich, Polen, Südafrika und Costa Rica.

Differenzierte Bewertung, übersichtliche Darstellung

Im Barometer zeigt das schweizerisch-deutsche Forscherteam die Entwicklung der 30 besten Demokratien in der Dekade von 1995 bis 2005 auf.

Anhand von empirischen 100 Indikatoren untersuchten die Wissenschafterinnen und Wissenschafter, wie die Länder die drei demokratischen Grundprinzipien Freiheit, Gleichheit und Gewaltenkontrolle umgesetzt haben.

Konkret erfolgte der Ländervergleich anhand der neun demokratischen Grundfunktionen individuelle Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Öffentlichkeit, Wettbewerb, Gewaltenkontrolle, Regierungsfähigkeit, Transparenz, Partizipation und Repräsentation.

Angeordnet zu einem “magischen Neuneck”, ergibt sich ein differenziertes Gesamtbild der Demokratiequalität in einem Land (siehe Grafik im Text). Je runder und zentrierter sich dieses Gesamtbild dem Auge des Betrachters präsentiert, desto besser spielt die Demokratie. Abweichungen der Fläche vom Zentrum des Neunecks sowie sternförmige Zacken signalisieren dagegen Mängel.

Musterland

“Die Schweiz wird intuitiv als Musterland der Demokratie wahrgenommen, zu recht, wie unsere detaillierte Auswertung zeigt”, sagt Marc Bühlmann.

Erfreulich wertet er besonders, dass die Schweiz von allen Ländern insgesamt die grössten demokratischen Verbesserungen verbuchen kann.

Nach Platz 19 im Jahr 1995 stand sie 2000 als 13. da, 2005 stiess sie auf den 9. Platz vor.

Weit über dem Schnitt

Als traditionelle Stärken hebt er die individuelle Freiheit hervor, die in der Schweizer Zivilgesellschaft herrsche. Weit über dem Durchschnitt liege auch die stabile Regierungsfähigkeit, die dem Bundesrat im Volk grosses Vertrauen einbringe.

Zum markanten Aufschwung im Bereich Öffentlichkeit trug einerseits die gesetzliche Verankerung des Öffentlichkeitsprinzips bei, dank dem Entscheidprozesse von Behörden seit 2006 für Aussenstehende nachvollziehbar sind.

Andererseits erwähnt Bühlmann auch ein sehr “differenziertes und gut ausbalanciertes Pressesystem”, das die Schweiz auszeichne. Nach dem Verschwinden der Parteipresse dominierten heute meist Forumszeitungen, welche die politischen Debatten von links bis rechts abbildeten.

Beim Wettbewerb punktet die Schweiz laut Bühlmann mit einem grossen Parteienspektrum. Während Parteien im Ausland zum Teil hohe Hürden für eine Wahlteilnahme zu überspringen hätten, kenne die Schweiz keine solchen.

Wer bezahlt?

“Allerdings schafft es die Schweiz in wichtigen Bereichen nicht übers Mittelmass hinaus”, relativiert Bühlmann. Bei der Transparenz wirke sich das fehlende Parteienfinanzierungs-Gesetz negativ aus, das in einer direkten Demokratie sehr wichtig wäre.

“Um sich eine Meinung zu bilden, müsste man schon wissen, wer und aus welchen Gründen sich für ein Referendum einsetzt”, konkretisiert er gegenüber swissinfo.ch.

Auch bei der Kontrolle der einzelnen Gewalten ist die Schweiz gegenüber den Besten im Rückstand. “Die Legislative hat kaum Möglichkeiten, die Regierung zu kontrollieren, Bundesräte können nicht abgewählt werden”, bemängelt Bühlmann. Dazu komme, dass die Justiz nicht unabhängig sei, weil die Richter der Bundesgerichte de jure von der Legislative gewählt und bezahlt würden.

Fragiles Wechselspiel

Die Darstellung des Demokratiebarometers in Form des magischen Neunecks bringt die Komplexität des zuweilen fragilen Wechselspiels demokratischer Faktoren gut zum Ausdruck.

Bühlmann illustriert dies am Vorschlag von rechter Seite, Bundesräte in der Schweiz nicht mehr durch das Parlament, sondern vom Volk wählen zu lassen. “Dies würde zwar die Partizipation verbessern, aber die Regierungsfähigkeit einschränken, weil die Bundesräte dann unabhängiger politisieren würden.”

Für viele bloss noch Theorie

Als “grössten Schwachpunkt” der Schweiz macht Bühlmann aber die Partizipation aus. Kein anderes Land stelle seinen Bürgern so viele Mitbestimmungs-Instrumente zur Verfügung wie die Schweiz. “Leider werden diese aber nur sehr selektiv wahrgenommen, meist nur von Älteren und Gebildeten, die zur Mehrheit Männer sind”.

Forscher gehen davon aus, dass viele Menschen freiwillig auf Stimm- und Wahlrecht verzichteten, weil sie das Gefühl hätten, ungenügend informiert oder zu wenig kompetent zu sein.

“Wenn man direkte Demokratie sagt, müsste man viel stärker auf politische Bildung zielen, indem man diese Menschen in ihrem Wissen und in ihren Kompetenzen zu stärken versucht. Auch dazu wäre mehr Transparenz wichtig”, bemerkt der Politikexperte.

Ob ein “Abholen” via Schule oder politische Bildung zu einer grösseren Partizipation führen würde, dahinter macht auch Bühlmann ein Fragezeichen, wisse man doch aus der Wahlforschung, dass dieses abstinente Drittel kaum zu mobilisieren sei.

Immerhin ist die zunehmende Verabschiedung eines Teils der Gesellschaft aus der politischen Mitwirkung nicht nur ein Schweizer Phänomen, sondern zieht sich als Tendenz durch alle Länder.

Im Demokratiebarometer werden die 30 besten Demokratien bezüglich ihrer Stärken und Schwächen verglichen.

In der Länderauswahl stützten sich die Forscher aus Zürich und Berlin auf bestehende Studien.

Das neue Instrument ermöglicht qualitative Aussagen zur Entwicklung der einzelnen Demokratien auf der Zeitachse sowie im Quervergleich.

Anhand von 100 empirischen Indikatoren bewerten die Forscher einerseits gesetzliche Grundlagen, andererseits ihre Umsetzung in der demokratischen Praxis.

Aufgrund der grossen Zahl der Indikatoren wird das Barometer gegenüber der Gegenwart stets zwei bis drei Jahre Verzögerung aufweisen.

Das Demokratiebarometer ermöglicht auch die Erkennung gemeinsamer Tendenzen wie beispielsweise der abnehmenden Mitwirkung des unteren gesellschaftlichen Drittels.

Die erste Ausgabe des Barometers bildet die Entwicklung der Demokratien zwischen 1995 und 2005 ab. Ein Update bis 2007 soll bald folgen.

Ziel der Autorinnen und Autoren ist die Herausgabe des Barometers im Jahresrhythmus.

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