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“Strengere Massstäbe bei Vorprüfung von Volksinitiativen”

Ueli Maurer, damals SVP-Parteipräsident, heute als Verteidigungsminister selber Mitglied der Regierung, türmt Im Jahr 2008 Unterschriften für die Ausschaffungsinitiative auf. Deren Umsetzung macht der Regierung immer noch Kopfzerbrechen. freshfocus

Schier endlose Debatten zur Umsetzung gewisser Volksinitiativen haben auch die Diskussion über Reformen für die direkte Demokratie angeheizt. Politikwissenschaftler Andreas Gross hält nichts vom Vorschlag, Volksinitiativen nur noch in Form "allgemeiner Anregungen" zuzulassen. Stattdessen fordert er strengere Massstäbe bezüglich Verfassungsprinzipien sowie Grund- und Menschrechtsbestimmungen.

Auf internationalem Parket tritt Andreas GrossExterner Link, der für die Sozialdemokratische Partei im Nationalrat und im Europarat ist und seit 2002 in zahlreichen Ländern Wahlbeobachter war, als Botschafter der Demokratie in Erscheinung – zuletzt am internationalen “Forum für moderne direkte DemokratieExterner Link” in Tunis.

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Auf die Fragen von swissinfo.ch zu Reformvorschlägen im Initiativrecht wollte Gross nur schriftlich Stellung nehmen.

swissinfo.ch: Was halten Sie vom Vorschlag, Volksinitiativen nur noch in Form von allgemeinen Anregungen zu ermöglichen? (Vgl. nebenstehenden Artikel)

Andreas Gross: Gar nichts. Der Vorschlag zielt auf eine Domestizierung der Volksinitiative und zu einer Gewichtsverlagerung zugunsten des Parlaments. Das wäre das Ende der direkten Demokratie, wie wir sie seit 1891 kennen. Denn die Volksinitiative lebt von der Möglichkeit, dass eine Minderheit von Bürgerinnen und Bürger allen Bürgerinnen und Bürgern eine ganz bestimmte Änderung der Verfassung zur Abstimmung vorlegen kann.

swissinfo.ch: Laut einigen Staatsrechts-Experten zeigen Volksbegehren wie jenes “gegen Masseneinwanderung”, dass bei Initiativen in der Form des “ausformulierten Entwurfs” irgendwelche Texte in die Verfassung gelangen können, die sich kaum umsetzen lassen. Sehen Sie das auch so?

A.G.: Nein, keineswegs. Sie dürfen nie vergessen, dass einige Experten schon vor  130 Jahren gegen die direkte Demokratie waren, weil sie immer glaubten, alles besser zu wissen und es mühsam finden, andere von der eigenen Meinung erst überzeugen zu müssen. Es gibt zwar keine Gesetzesinitiativen und deshalb könnten Verfassungsinitiativen, die ausschliesslich Gesetzesinitiativcharakter haben, vielleicht in Zukunft auch wegen der Missachtung der Form ungültig erklärt werden. Bezüglich Verfassungsprinzipien und Grund- bzw. Menschrechtsbestimmungen müssen strengere Massstäbe gelten.

Politikwissenschaftler Andreas Gross. Freshfocus

swissinfo.ch:Die Art und Weise, wie das Initiativrecht in den letzten Jahren genutzt wurde, könnte die Volksrechte gefährden, weil es grosse Probleme bei der Umsetzung gibt. Wie wollen Sie dieses Malaise beheben?

A.G.: Einige dieser Volksinitiativen zielten ganz bewusst auf die Freiheit von bestimmten Menschengruppen, seien es Ausländer, Asylbewerber, Kriminelle oder Sexualstraftäter. Diese Initiativen brachten nicht einfach ein allgemeines Malaise oder Umsetzungsprobleme zum Ausdruck, sondern illustrierten einen Mangel in der Bundesverfassung, der bis anhin nicht als solcher erkannt wurde. Der Grundrechts-und Menschenrechtsschutz ist gleichsam prozedural in der Bundesverfassung nicht mit den Volksrechten versöhnt. Volksinitiativen können deshalb auch zur Abstimmung gebracht werden, die – einmal von Volk und Ständen mehrheitlich angenommen – den Grundrechten bestimmter Menschen widersprechen. Und deshalb können sie nicht so umgesetzt werden, wie einige ihrer Befürworter sich dies erhoffen. Dies untergräbt aber sowohl die direkte Demokratie als auch die Grund- und Menschenrechte. Deshalb müssen wir den Umgang mit diesen Volksinitiativen ändern, nicht die Substanz der Volksinitiative generell.

swissinfo.ch: Bei mehreren angenommenen Volksbegehren haben manche Leute den Eindruck bekommen, dass der Gesetzgeber den Volkswillen nicht umsetzt. Sehen Sie das auch so?

A.G.: Nein. Gesetzgeber sind bei uns die Bundesversammlung und die Bürger. Die Bundesversammlung bemüht sich einerseits, eine Volksinitiative so umzusetzen, dass sie den übrigen Verfassungsprinzipien wie den Grundrechten und den Menschenrechten entspricht. Andererseits bemüht sie sich, die Anliegen der neuen, durch die Volksinitiative in die Verfassung gebrachten Normen nach bestem Wissen und Gewissen umzusetzen. Und sie geht davon aus, dass wenn ihr dies nicht gelingt, die Kritiker – als  subsidiäre Gesetzgeber –  ihrerseits wiederum das Referendum ergreifen und die Umsetzungsvorlage des Parlaments zu Fall bringen werden. Dieser Referendumsdruck ist sehr effizient und veranlasst das Parlament, die Anliegen der alten Initianten nicht einfach zu überhören.

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