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“Im Schweizer Asylwesen fehlt die Menschlichkeit”

Grenzwächter und eine Gruppe Migranten vor einem Railjet-Zug
Die Asylpolitik der Schweiz wurde in den letzten Jahrzehnten immer restriktiver, und die Rechte von Flüchtlingen wurden auf ein Minimum beschränkt. Keystone

Die Juristin und Aktivistin Denise Graf widmet ihr Leben der Verteidigung der Rechte von Flüchtlingen. Mit 64 Jahren verlässt sie Amnesty International und geht in Pension. Doch ihren Kampf für die Menschenrechte will sie nicht aufgeben.

Ihre Karriere startete sie nach dem Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Genf beim damaligen Bundesamt für Polizei. Denise Graf war dort unter anderem für die Migrationspolitik zuständig. 1999 machte sie den Schritt zur Menschenrechts-Organisation Amnesty International, wo sie sich hauptsächlich für die Verteidigung der Rechte von Flüchtlingen einsetzte.

Graf ist bekannt für ihre juristische Kompetenz, ihre Hartnäckigkeit und ihren Humor. Sie hat die Geschichten von Missbrauch und Gewalt, die sie so oft zu hören bekommt, nie satt, sondern zeigt sie an und bringt sie vor Gericht.

“Ich kann angesichts von Ungerechtigkeit nicht gleichgültig bleiben”, sagt die 64-Jährige. Für ihren ersten “Pensionierten-Urlaub” wählte sie einen mehr als nur symbolischen Ort: Lampedusa, die Insel der Bootslandungen und der Solidarität.

swissinfo.ch: Woher kommt Ihr Interesse für die Migration und die Menschenrechte?

Denise Graf: Es war während meiner Adoleszenz, als Ende der 1960er-Jahre Hunderte tschechoslowakische Flüchtlinge in meinem Dorf Buchs, Kanton St. Gallen, ankamen. Sie lebten in einem Zivilschutz-Zentrum, fast wie in einer Sardinendose. Eines Tages lud meine Mutter eine Familie zum Kaffee ein, und so hat alles angefangen.

“Es ist die Geschichte von mindestens 12 Gesetzesrevisionen, die mit immer hasserfüllteren Kampagnen zu einer Demontage des Asylrechts führten.”

Das Interesse an der Migration hat aber auch mit der Geschichte meiner Familie zu tun. Meine Grossmutter hatte einen Deutschen geheiratet und damit die Schweizer Staatsbürgerschaft verloren. Sie zog mit ihm nach Berlin. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, nachdem ihr Haus bombardiert worden war, entscheid sie sich zur Rückkehr in die Schweiz. Während Monaten war sie in Rheinfelden blockiert, weil sie auf die Einreise-Erlaubnis der Schweizer Behörden warten musste.

swissinfo.ch: Sie hatten während mehr als 30 Jahren mit der schweizerischen Migrationspolitik zu tun, zuerst auf Seiten der Entscheidenden, dann auf Seiten jener, die diese bekämpften. Wie hat sich Ihrer Meinung nach das Asylrecht entwickelt?

D.G.: Es ist die Geschichte von mindestens 12 Gesetzesrevisionen, die mit immer hasserfüllteren Kampagnen zu einer Demontage des Asylrechts führten. Zuerst verschärfte das Parlament die Kriterien für den Flüchtlingsstatus, um vermeintliche Missbräuche zu bekämpfen, und seither hat es die Rechte von Personen, die einen solchen internationalen Schutz bekommen, minimiert.

Rechtlich gesehen, werden Flüchtlinge in der Schweiz häufig auf die gleiche Stufe wie Wirtschaftsmigranten gestellt, trotz der Tatsache, dass sie ihre Flucht nicht selbstgewählt, sondern aus einer Notwendigkeit heraus angetreten haben.

Zudem wird ihre Integration auf mehreren Ebenen gehemmt: Im Berufsalltag beispielsweise ist die Schweiz eines der restriktivsten Länder bei der Angleichung von Diplomen, und gesellschaftlich gibt es keine Anerkennung der erlebten Traumata.

Denise Graf am Arbeitstisch mit Computer
“Ich kann angesichts von Ungerechtigkeit nicht gleichgültig bleiben”, sagt Denise Graf, die den Kampf zur Verteidigung der Menschenrechte weiterführen will. swissinfo.ch

swissinfo.ch: Was hat Sie bei ihrer Arbeit zur Verteidigung der Rechte von Asylsuchenden am meisten schockiert?

D.G.: Ohne Zweifel das Dublin-Verfahren, gemäss dem auch die schutzbedürftigsten Familien getrennt werden dürfen oder in Länder wie Ungarn, Griechenland, Italien oder Frankreich zurückgeschickt werden können, wo nicht sichergestellt ist, dass sie angemessen untergebracht werden.

Ich habe eben erst die Geschichte einer Frau mit zwei Kindern verfolgt. Nachdem sie gezwungen worden war, die Schweiz zu verlassen, kam sie nach Mineo, eines der schlimmsten Aufnahmezentren in Italien, wo immer wieder Fälle von Gewalt und Missbrauch bekannt werden.

“Die Schweiz versteckt sich hinter der Tatsache, dass sie im Rahmen der Verteilung von Flüchtlingen in Europa 900 Personen aus Italien aufgenommen hat. Doch zurückgeschickt hat sie viele, viele mehr.”

Die Schweiz hat die Pflicht, sicherzustellen, dass diese Personen angemessen behandelt werden, wenn sie einmal zurück in Italien sind. Man kann nicht einfach die Augen verschliessen. Im europäischen wie auch im Schweizer Asylwesen fehlt die Menschlichkeit.

Ich erinnere auch an den Fall einer afghanischen Familie, wo die Eltern bis zum Transfer nach Norwegen inhaftiert und deren Kinder vorübergehend getrennt untergebracht wurden, ohne dass sie miteinander hätten sprechen können. Eine inakzeptable Situation! Diese Geschichte hatte mich derart erschüttert, dass ich noch in der gleichen Nacht entschied, den Fall vors Bundesgericht zu bringen, wo wir gewonnen haben.

swissinfo.ch: Sie haben Italien und Frankreich erwähnt, zwei demokratische Länder und Wirtschaftsmächte. Liegt es wirklich in der Verantwortung der Schweiz, was dort mit Asylbewerbern geschieht, wenn sie auf Grundlage des Dublin-Verfahrens überstellt wurden?

D.G.: Die Dublin-Regelung enthält eine Klausel, die der Schweiz erlaubt, aus humanitären Gründen auf eine Rückführung zu verzichten, wenn beispielsweise nicht garantiert werden kann, dass schutzbedürftige Personen angemessen betreut werden. In Italien fehlen die dazu nötigen Strukturen, und die Eidgenossenschaft ist dafür verantwortlich, zu intervenieren.

Nicht zuletzt, weil Italien bereits viel getan hat; es hat ohne grosse Hilfe der Europäischen Union Hunderttausende von Menschen aufgenommen, die das Mittelmeer überquert haben. Nun versteckt sich die Schweiz hinter der Tatsache, dass sie im Rahmen der Verteilung von Flüchtlingen in Europa 900 Personen aus Italien aufgenommen hat. Doch zurückgeschickt hat sie viele, viele mehr. Deshalb glaube ich, dass sie mehr Solidarität zeigen sollte, vor allem jetzt, wo die Zahl der Asylanträge zurückgeht.

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swissinfo.ch: Seit Jahren schon strengt sich Europa an, eine gemeinsame Strategie zum Umgang mit dem Migrations-Phänomen zu finden. Was könnte ein Weg sein zwischen jenen, die auf eine vollständige Schliessung der Grenzen drängen, und jenen, die sich wünschen, dass die Grenzen weit geöffnet werden?

D.G.: Europa, wie auch die Schweiz, braucht mehr oder weniger qualifizierte Arbeitskräfte. Theoretisch gibt es also Platz für eine teilweise Öffnung der Grenzen auch für jene, die auf der Suche nach Arbeit auswandern und sich heute gezwungen sehen, den Umweg über das Asyl zu gehen und sich auf Netzwerke von Menschenhändlern verlassen zu müssen. Vorschläge dieser Art treffen aber auf ein hasserfülltes politisches Klima und die Zurückhaltung der Wirtschaft, die ihre eigenen Interessen hat.

“Die Politik der Europäischen Union – unterstützt auch von der Schweiz – ist für die Zunahme der Todesfälle im Mittelmeer verantwortlich.”

Betrachten wir den Fall der Schweiz. Die Eidgenossenschaft hat ein Migrationsabkommen mit Tunesien abgeschlossen, das neben der Rückführung abgelehnter Asylsuchender die Möglichkeit vorsieht, dass rund hundert junge Menschen in der Schweiz eine Lehre absolvieren können. Aber die Unternehmer machen nicht mit, und die Schweiz muss um die Einhaltung ihres Abkommens kämpfen.

Betreffend der Grenzschliessung habe ich keine Angst zu sagen, dass die Politik der Europäischen Union – unterstützt auch von der Schweiz – für die Zunahme der Todesfälle im Mittelmeer und der Folter von Tausenden von Menschen in Gefangenenlagern in Libyen verantwortlich ist. Das ist inakzeptabel und unmenschlich!

swissinfo.ch: Sie haben Hunderte Augenzeugenberichte von Menschenrechtsverletzungen gesammelt. Wie gehen Sie mit dieser emotionalen Belastung um?

D.G.: Sagen wir, dass es nicht immer einfach war. In den schwierigsten Momenten hat mir der Sport immer geholfen – in die Berge, Velofahren oder Schwimmen gehen. Dann habe ich das Glück, dass ich auf dem Land lebe, einem idealen Ort, um sich zu erholen.

Ich denke aber, am meisten haben mir die Personen geholfen, die ich bei meiner Arbeit begleiten konnte. Trotz ihrer Erlebnisse zeigen sie beispiellosen Mut und Stärke. Sie haben mich viel gelehrt, und aus diesen Beziehungen sind grosse Freundschaften entstanden.

swissinfo.ch: Ende August verlassen Sie ihr Amt als Juristin bei Amnesty International, wollen aber weiterhin für die Verteidigung der Menschenrechte kämpfen. Fühlen Sie sich nicht müde?

D.G.: Nein, ich bin nicht müde. Aber ich werde in Zukunft in einem etwas menschlicheren Rhythmus arbeiten, wenn ich das so sagen darf (lacht). Das nächste Jahr wird entscheidend sein, weil die Eröffnung neuer Bundeszentren für Asylsuchende geplant ist. Es gibt deshalb viel zu tun bei der Verteidigung der Menschenrechte, und ich kann angesichts von Ungerechtigkeit nicht gleichgültig bleiben.

(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

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