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Der “Botellón” – das unbekannte Wesen

"Es geht nicht um die Moral. Es geht um den Jugendschutz": Alexander Tschäppat, Berner Stadtpräsident. Keystone

Verschiedene Schweizer Städte bereiten sich auf Massenbesäufnisse vor, so auch Bern. In der Bundesstadt wollen die Behörden "vor Ort schauen, ob eine Intervention nötig ist", wie Stadtpräsident Alexander Tschäppät im Gespräch mit swissinfo ausführt.

Die Mobilisierung zum “Botellón” geschieht virtuell, auf der Netzwerkplattform “Facebook”, oder per SMS. Es gibt keinen Präsidenten, keine Statuten, keine Kontakte und Absprachen mit den Behörden und kein anderes deklariertes Ziel, als sich gemeinsam zu betrinken.

swissinfo: Welche Gründe sprechen aus Ihrer Sicht gegen eine solche Veranstaltung?

Alexander Tschäppät: Eine Veranstaltung, die zum Ziel hat, sich vollaufen zu lassen, ist ja nicht so begehrenswert für eine Stadt, dass hier die öffentliche Hand noch Unterstützung leisten muss.

Es wird viel getrunken in unserer Gesellschaft, Jugendalkoholismus ist ein Thema und es ist nicht Aufgabe einer Stadt, hier noch zusätzliche Attraktivität zu bieten.

swissinfo: Die Veranstalter haben kein Gesuch eingereicht. Mit welcher rechtsstaatlichen Begründung lehnen Sie den Anlass ab?

A.T.: Es ist klar, dass wir nichts ablehnen können, für das keine Bewilligung verlangt wird. Wir können nur sagen, dass wir das nicht wollen. Es ist in der Tat eine juristische Frage, in welcher Form so etwas überhaupt bewilligungspflichtig ist.

Nun, ich gehe mal davon aus, dass wenn man dazu aufruft, sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort zu versammeln und dann den Platz auch besetzt, dann ist das ‘gesteigerter Gemeingebrauch’. Dafür ist eine Bewilligung nötig.

Die Behörden müssen also vor Ort schauen, ob eine Intervention nötig ist oder nicht. Es geht hier nicht um Moral. Es ist nicht Sache der Stadt, den Jugendlichen vorzuschreiben, was sie dürfen oder nicht.

Ich glaube, unsere Aufgabe ist es, im Bereich Jugendschutz, Gesundheit und Prävention zu handeln. “Facebook” wird schliesslich auch von 14-Jährigen benutzt.

swissinfo: Kann das auch heissen, dass die Polizei einschreiten wird?

A.T.: Die Polizei, die Sanität, aber auch Vorsorge-Organisationen werden vor Ort sein. Aber es geht ganz klar nicht darum, mit Zwangsmitteln eine Zusammenkunft von Jugendlichen zu verhindern.

Was wir verhindern müssen, sind Auswüchse, die Gefährdung Minderjähriger oder Sachbeschädigungen. Aber wenn dies alles nicht geschieht, dann gehe ich davon aus, dass es eine friedliche, hoffentlich für die Jugendlichen nicht allzu anstrengende Nacht wird.

swissinfo: Sind Sie also der Meinung, man sollte “Botellóns” tolerieren?

A.T.: Nein, ich finde den Aufruf, sich bis zum Umfallen zu betrinken, keine gute Idee. Das ist ein dummes Ziel.

Der Staat soll mit Augenmass schauen, dass die Nachteile für Dritte nicht zu gross werden. Ich denke an Sachbeschädigungen oder an Glasscherben im Gras, die am andern Tag für Kinder gefährlich werden können.

An und für sich ist das Zusammenschliessen von Jugendlichen nichts Neues. In der Zwischenzeit relativieren auch die Jugendlichen das Ziel und sagen, es sei eine Party, um sich in einem grösseren Kreis kennen zu lernen. Wenn das wirklich so ist, dann um so besser.

swissinfo: Im Juni haben sie den Holländern gedankt, dass Sie während der Euro 2008 die Stadt Bern in eine grosse Festhütte verwandelt hatten. Braucht es einen Vorwand für ein Massenbesäufnis?

A.T.: Das kann man nicht vergleichen. Ich habe den Holländern nicht gedankt, weil sie sich haben vollaufen lassen. Die kamen zu uns, um sich die Spiele anzuschauen. Die Nebenerscheinung – das ist bei jedem Schwingfest und bei jeder Fasnacht so – ist eben auch Alkoholkonsum. Es war nicht die einzige Zielsetzung, Bier zu trinken bis zum Umfallen.

Kommt hinzu, dass wir bei der Euro einen Ansprechpartner hatten, mit dem wir die Spielregeln abmachen konnten. Wir wussten, welche Formen von Alkohol verkauft werden und welche eben nicht. Wir hatten die Regel, kein Glas, sondern nur Mehrwegbecher. Die Folge war, dass wir keine einzige Alkoholleiche hospitalisieren mussten.

swissinfo: Ein “Botellón” ist ja auch eine Provokation. Wieweit haben Sie sich überlegt, dass negative Reaktionen und Einschränkungen auch eine Werbewirkung haben können?

A.T.: Stellen Sie sich vor, wir hätten gesagt: “Kommt und sauft euch voll.” – Wäre das eine Botschaft gewesen? Es war ein anonymer Aufruf zu einer Kampftrinkerei. Da kann der Staat doch nicht noch Begeisterung zeigen und Plätze zur Verfügung stellen.

Indem wir sagen, dass wir das nicht wollen, geben wir auch Grenzen bekannt. Ich glaube, es braucht diese Sprache.

swissinfo: Wo bleibt denn die Prävention bei Volksfesten oder beim Feldschiessen?

A.T.: An einem Feldschiessen wird nicht aufgerufen, zu trinken, bis man ohnmächtig ist. Es gibt auch eine gewisse soziale Kontrolle. Ich habe schon das Gefühl, es wäre ideal, wenn man auch mit den Jungen Spielregeln abmachen könnte.

Wir sind nicht die Moralwächter, aber wir wissen ja nicht einmal, wo der Anlass stattfinden soll. “Botellóns” sind ein neues Phänomen und wir müssen lernen, damit umzugehen.

swissinfo-Interview: Andreas Keiser

“Botellón” (Boteyon ausgesprochen) kommt vom spanischen Wort “botella” (Flasche).

Das Phänomen ist Mitte der 1990er-Jahre in Spanien entstanden, aus der Gewohnheit, sich in den Städten während der Sommernächte zu begegnen, aber auch als Reaktion auf die hohen Preise für alkoholische Getränke in Bars und Discotheken.

Es geht darum, sich in einem Park mit meist jungen Leuten zu treffen – das häufigste Alter liegt zwischen 16 und 24 Jahren – und schnell, viel und billig zu trinken. Jeder bringt die Früchte seines Einkaufs mit. Sehr im Trend liegen Cocktails oder andere Mixturen von starkem Alkohol und Limonaden.

Eine “Botellón” wird spontan mit Aufrufen im Internet organisiert, zum Beispiel auf “Facebook” oder per SMS. Im Sommer 2004 haben die Makro-Botellónes in den spanischen Städten Zehntausende Jugendliche angezogen.

Weil die Veranstaltungen regelmässig ausarten, Verwüstungen öffentlicher Anlagen und zahlreiche Jugendliche mit zum Teil schweren Alkoholvergiftungen hinterlassen, haben die Behörden mit immer strengeren Alkohol-Verkaufsverboten reagiert.

In einigen Städten werden für die Teilnehmer eines Botellóns abgelegene Plätze mit Abfallcontainern und Toiletten zur Verfügung gestellt.

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