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Der Blick von aussen auf die Schweiz

Das Ehepaar Baumann, Gastschreiber der deutschsprachigen Redaktion. zvg

Wer Nabelschau betreibt, läuft Gefahr, das Wesentliche zu übersehen oder sich im Detail zu verlieren. Aus dieser Erkenntnis heraus haben wir die neue Rubrik "Die Kolumne" geschaffen.

Sie gibt kritischen Beobachtern periodisch Gelegenheit, Erfahrungen und Beobachtungen, die sie während vielen Jahren in der Schweiz gemacht haben, mit ihrem Leben im Ausland zu vergleichen.

Die Innensicht erfährt Korrekturen und wird relativiert. Unser Blick wird geschärft für eine Realität, die immer wieder im Spannungsfeld zwischen innen und aussen, zwischen hier und dort entsteht und durch diese spezielle Erfahrung geprägt wird.

Stephanie und Ruedi Baumann werden Sie während der kommenden Monate begleiten. Wir wünschen Ihnen beim Lesen neue Einsichten und viel Vergnügen.

swissinfo

Süss & sauer

Im lehmigen Boden und trockenen Klima des französischen Südwestens soll man nicht einen Berner Bauerngarten anlegen wollen.

Die Kohlräbli, für die ich extra Samen aus der Schweiz importierte, werden ohne ihren gewohnten helvetischen Regen schnell holzig; die Rüebli muss ich mit der Stechschaufel aus der harten Erde graben; die Krautstiele werden von Reh und Hase gefressen; und unsere Kartoffeln ehren die schlausten Bauern: sie sind so klein und rar, dass wir sie wie Trüffeln kredenzen. Nur Auberginen, Tomaten und Courgettes wachsen üppiger als in der Schweiz.

Und nachdem nun all unsere Freunde in den letzten Wochen tapfer jeden Tag Zucchini roh als Salat oder als Unterlage für Terrinen, gebacken mit Ziegenkäse und Honig oder gekocht und püriert als Suppe gegessen haben, und nachdem auch Séverine, meine Nachbarin, sachte andeutete, ihr wäre eine Tafel Schweizer Schokolade, am liebsten die dunkle, doch langsam willkommener als immer diese ewigen Courgettes – heute habe ich mich also entschlossen, den Überfluss zusammen mit Essig, Wein, Zucker, Salz und Gewürzen in Gläser abzufüllen. Im nächsten Winter werden bei uns zur hier traditionellen Foie gras nicht süsse Feigen gereicht, sondern saure Gurken.

Seit drei Jahren leben wir jetzt ständig in Frankreich. In den Ferien fahren wir heim in die Schweiz. Nach zwei Wochen fahren wir wieder heim nach Frankreich. Die Wortwahl verrät, dass wir uns in France integriert und von der Schweiz noch nicht abgenabelt fühlen. Auch während der Fussball-WM wurde unsere Ambivalenz offensichtlich. Wir verfolgten das Spiel France – Suisse gemeinsam mit unsern Nachbarn. “Vous êtes pour la Suisse ou pour la France?”, wollten ihre Kinder wissen. “Pour tous les deux” war unsere wahrheitsgetreue Antwort, welche die beiden Mädchen kaum glauben wollten und ständig aus den Augenwinkeln beobachteten, ob wir auch wirklich unparteiisch mitfiebern.

Wir haben tatsächlich unsere Daumen kräftig sowohl für les Bleus wie auch für Köbis Team gedrückt. Mit Erfolg: die beiden trennten sich unentschieden. Ein paar Tage später, als wir uns zum Spiel France – Korea wieder trafen, galt unser Support zwar ungeteilt den Franzosen, geärgert haben wir uns aber alle zusammen über das müde Spiel der “vieux Bleus”.

Dort, wo wir uns ärgern, dort sind wir zu Hause. Heute fühlen wir uns hier so heimisch, dass wir an der Grande Nation nicht immer alles toll finden müssen, nur um zu zeigen, dass wir integriert sind. Wir können abwechselnd loben und kritisieren, wie wir das in der Schweiz auch taten und immer noch tun.

So erfreuen wir uns zusammen mit unsern Freunden an den witzig giftigen Zeitungskarikaturen über das politische Personal und sind enttäuscht, dass der Premierminister de Villepin nicht hält, was wir bei Beginn seiner Amtszeit von ihm erhofften. Solidarisch mit den Franzosen empören wir uns über die Schweizer Zeitung, die detailliert über das Privatleben von Innenminister Sarkozy berichtete. Französische Medien verschonen diskret die Privatsphäre und kritisieren dafür in der Sache umso heftiger.

Anfänglich hatten wir uns noch beeindrucken lassen von der sprachlichen Eloquenz der französischen Politiciens, stellten dann jedoch bei genauerem Hinhören ernüchtert fest, dass da wohl schwungvoll geredet aber leider nicht viel gesagt wurde. Ganz im Unterschied zu Deutschschweizer Politikern, deren Aussagen zwar kürzer und nüchterner ausfallen, aber mindestens so gehaltvoll. Selbst bei jenem polternden Bundesrat, der den richtigen Schluss zu seinen Sätzen selten findet, errät man meistens, was er hatte sagen wollen.

Langsam gewöhnen wir uns an die kleinen Unterschiede und an die Eigenheiten unseres Gastlandes. Einiges stösst uns aber immer noch sauer auf. Ich muss heute schon zum X-ten mal bei der Direction Départementale de l’Agriculture vorsprechen. L’administration hat es immer noch nicht geschafft, mein Dossier für die Direktzahlungsrechte zu erledigen, obwohl ich die Unterlagen fristgerecht bereits im letzten September einreichte und in der Zwischenzeit mehrmals für Ergänzungen aufgeboten worden bin.

Trotz PAC (Gemeinsamer Agrarpolitik) der EU versucht jedes Land, es noch etwas besser (und damit komplizierter) als die anderen zu machen. Tröstlich ist, dass es Tausenden meiner Berufskollegen ähnlich ergeht. Wer hier etwas vom Staat haben will, und sei es auch nur das einfachste Formular, der muss sich dies sauer verdienen.

Einige andere Gewohnheiten und Bräuche machen uns gar keine Mühe. Wir haben sie sofort übernommen, wie etwa die häufigen gegenseitigen Einladungen zum Apéro oder die supersüssen Bûches de Noël.

Allzu verschieden sind sie tatsächlich nicht, la Grande France und die kleine Schweiz. Bei der Mondiale waren wir beide genau gleich stark, als wir gegen einander antraten. WIR haben Brasilien besiegt, waren im Final und sind sozusagen Weltmeister.

Stephanie und Ruedi Baumann

Stephanie Baumann, Jahrgang 1951, war Berner Kantonsrätin und Nationalrätin für die Sozialdemokraten. Zudem amtete sie als Verwaltungsrats-Präsidentin des Berner Inselspitals.

Ruedi Baumann, Jahrgang 1947, ist gelernter Bauer und Agronom. Er war Gemeinderat, Kantonsrat, Nationalrat und Präsident der Grünen Partei Schweiz.

Stefanie und Ruedi Baumann haben zwei Söhne. Die Familie bewirtschaftete 28 Jahre lang einen Bauernbetrieb in Suberg, im Berner Seeland, bevor sie im Jahr 2003 nach Frankreich auswanderte.

Heute leben die Baumanns in der Gascogne, 100 km westlich von Toulouse, und sind als Biobauern auf ihrem eigenen Hof tätig.

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