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Deutschland – Schweiz: Eine Stabilitätskultur

Hans-Dietrich Genscher letzte Woche in Zürich, mit seinem obligaten gelben Pullover. swissinfo.ch

Für den ehemaligen deutschen Aussenminister Hans-Dietrich Genscher sind die deutsch-schweizerischen Verwerfungen kein Grund, sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Er sieht hinter den Beziehungen der beiden Länder eine Stabilitätskultur, die gerade in der heutigen Zeit von grösster Bedeutung sei.

Der Liberale Hans-Dietrich Genscher, von 1974 bis 1992 fast ununterbrochen Aussenminister und Stellvertreter des deutschen Bundeskanzlers, spielte für den Aufbau des geeinten Europas, für die Wiedervereinigung Deutschlands und die Integration der neuen Länder in die EU eine massgebende Rolle.

Letzte Woche sprach er am OSEC-Forum der Schweizer Aussenwirtschaft zur Frage, ob das Traum-Europa von 1989 politisch und weltwirtschaftlich bald nur noch eine Nebenrolle spielen werde. Europa habe der Welt nach dem 2. Weltkrieg ein Beispiel gegeben, dass man aus der Geschichte auch lernen kann: “Wir Europäer leben heute anders zusammen als noch vor 100 Jahren.”

swissinfo.ch befragte Genscher zum deutsch-schweizerischen Zusammenleben. Dieses war in letzter Zeit in mehrerer Hinsicht belastet. Stichworte: Bankgeheimnis, Unternehmenssteuer-Paradies, Anflugstreit um Kloten und Einwanderung.

Daraus haben sich ungute Polemiken von Rechtsaussen bis zur Boulevard-Presse ergeben, die besonders die Einwanderungs-Ängste für Schlagzeilen nutzte.

swissinfo.ch: Gibt es im Verhältnis zwischen den beiden Ländern ausser den genannten Konflikten weitere schlafende Hunde, die geweckt werden könnten?

Hans-Dietrich Genscher: Als schlafende Hunde würde ich diese Konflikte nicht bezeichnen. Ich finde, dass die deutsch-schweizerischen Beziehungen völlig solide, breit angelegt und freundschaftlich sind, untermauert durch eine unglaublich starke wirtschaftliche Verflechtung.

Was für mich besonders viel wiegt, ist der Umstand, dass die Beziehungen auf einer Kultur der Stabilität beruhen. Dies ist gerade heute von grösster Bedeutung.

swissinfo.ch: Wären die Konflikte mit der gleichen Intensität aufgebrochen, wenn die UBS und andere Banken nicht derartige Fehler im Umgang mit den Geldern aus dem Ausland begangen hätten?

H.-D.G.: Natürlich war die Weltfinanzkrise einer der Gründe, weshalb alle diese Fragen zwischen Deutschland und der Schweiz heute so viel sensibler betrachtet werden als das in der Vergangenheit der Fall war.

swissinfo.ch: Worin liegt der Unterschied in den Beziehungen Deutschlands zur Schweiz und jene zu Österreich, einem ebenfalls kleinen deutschsprachigen Nachbarn?

H-D.G.: Das Verhältnis Deutschlands zu Österreich ist historisch ein ganz anderes. Im Fall von Österreich spielt die Position von Bayern eine grosse Rolle.

So war der bekannte österreichische Nachkriegskanzler Bruno Kreisky dafür kritisiert worden, dass er nicht in Österreich selbst Ferien machte, sondern im bayerischen Bad Reichenhall.

Er antwortete darauf: “Ich gehe nach Bayern, weil ich dann nicht mehr in Österreich, aber auch noch nicht ganz in Deutschland bin.”

So ein Diktum ist auf die Schweiz nicht anwendbar.

swissinfo.ch: A propos Bayern. Der ehemalige deutsche Finanzminister Hans Eichel hatte an einer Debatte am Schweizer Fernsehen halb im Spass, halb im Ärger das aus seiner Sicht problematische Verhalten der Schweiz mit jenem des unbotmässigsten aller deutschen Bundesländer, nämlich Bayern, verglichen. Denken auch andere Deutsche so?

H-D.G.: Das sollte sicher ein Witz gewesen sein. Bayern hat in Deutschland immer eine eigenständige Rolle gespielt. Das wurde dann noch unterstrichen durch so beachtliche Persönlichkeiten wie Franz-Josef Strauss.

Bayern hat seine Identität, was ich wunderbar finde. Aber es ist bundestreu, auch wenn es bei der Verabschiedung des deutschen Grundgesetzes (Verfassung) diesem nicht zugestimmt hat. Auch die neuen Bundesländer besinnen sich zunehmend auf ihre Identität.

Das macht ja den besonderen Charakter des deutschen Föderalismus aus. Als Liberaler sehe ich darin eine Stärkung der Gewaltenteilung. Ausserdem sehe ich darin Chancen für den Wettbewerb. Als unbedingter Föderalist befinde ich mich somit ganz nahe bei den Schweizern – und bei den Österreichern.

swissinfo.ch: Wird von Föderalismus gesprochen, denkt man auch an Europa. Möchten Sie die Schweizer denn in der EU mit dabei haben?

H-D.G.: (lacht) Die Zeit, als wir Deutsche unseren Nachbarn Ratschläge gegeben haben, ist vorbei.

swissinfo.ch: Was sagen Sie zum Umstand, dass ausgerechnet im deutsch-schweizerischen Krisenjahr 2009 noch vermehrt Schweizer nach Deutschland ausgewandert sind?

H-D.G.: Es ist schön, wenn Deutschland für die Schweizer attraktiv ist. Es gab auch andere Zeiten. Es zeigt wahrscheinlich auch, dass die Leute dies gar nicht richtig als Auswanderung betrachten.

Alexander Künzle, swissinfo.ch

1927 bei Halle (Ostdeutschland geboren), 1952 nach West-Berlin geflüchtet.

Seit 1952 ist der Mitglied der Freien Demokratischen Partei FDP, die in den deutschen Bundeskanzler-Wahlen oft das Zünglein an der Waage spielt.

Von 1965 bis 1998 war er Mitglied des Deutschen Bundestages.

1969 trat er in die Regierung Willy Brandt ein (sozialliberale Koalition).

1974 wurde Genscher Aussenminister und Vizekanzler in der Regierung von Helmut Schmidt. Er war massgeblich an der KSZE-Schlussakte in Helsinki beteiligt (KSZE: blockübergreifende Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa).

1982, nach dem Ende der Koalition von SPD und FDP, kam Genscher als Aussenminister und Vizekanzler in die Bundesregierung Helmut Kohl.

Er machte sich einen Namen mit seiner Entspannungspolitik und dem Ost-West-Dialog.

Auch an der europäischen Einigung und der Wiedervereinigung hatte er grossen Anteil.

1992 schied Genscher als damals Europas amtsältester Aussenminister aus der Bundesregierung aus. Er hatte ihr 23 Jahre lange angehört.

Hans-Dietrich Genschers lange Amtsdauer gab Anlass zu zahlreichen Witzen. Einen davon erzählte er am OSEC-Forum der Schweizer Aussenwirtschaft gleich selber:

“Zu Genschers Amtszeit wurde bekanntlich auch der Ötzi in Südtirol im Gletscher gefunden. Bauern haben ihn dann in ihre Berghütte mitgenommen, damit er wieder auftauen kann. Und als er wieder zu sich kam, und die Augen aufschlug, war das erste, was er gefragt haben soll: Ist der Genscher immer noch Aussenminister?’

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