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Die Botschafterin von Schweizer Werten

Nationalratspräsidentin Chiara Simoneschi-Cortesi pendelt zwischen Bern und Comano. Keystone

Erstmals nach 30 Jahren wird der Nationalrat wieder von einem Volksvertreter aus dem Tessin präsidiert. CVP-Nationalrätin Chiara Simoneschi-Cortesi will versuchen, in dieser Position den nationalen Zusammenhalt zu stärken, wie sie im swissinfo-Interview sagt.

Als Exponentin der Christlichdemokratischen Volkspartei hat sie mit der Wahl zur Präsidentin des Nationalrats – als erste Tessinerin und 30 Jahre nach dem letzten Tessiner Nationalratspräsidenten (Luigi Generali, 1978) – ihren politischen Zenit erreicht

Politik ist ihre Leidenschaft, insbesondere Familien-, Sozial- und Bildungspolitik. Seit Chiara Simoneschi-Cortesi Politik betreibt, hat sie sich stets in wichtigen Themen exponiert. Dabei ist sie in ihrer Art direkt, entschieden, kompetent und offen.

swissinfo: Welche Gedanken gehen Ihnen angesichts dieser Wahl durch den Kopf?

Chiara Simoneschi-Cortesi: Ich bin etwas aufgeregt, aber auch glücklich. Ich bin mir der grossen Aufgabe bewusst und möchte sie in meinem eigenen politischen Stil anpacken: seriös, überzeugend und mit Leidenschaft.

Diese Wahl stellt für mich persönlich die Krönung meiner politischen Karriere dar. Diese Karriere fusst auf Werten, an die ich glaube und für die ich mich einsetze: Gegenseitiger Respekt, Solidarität, soziale Gerechtigkeit, Offenheit und Dialogbereitschaft.

In diesem Moment empfinde ich auch grosse Dankbarkeit für meine Familie, für meine Freundinnen und Freunde. Und meine Gedanken gehen in meine Heimat, das Tessin. Dieser Kanton hat in den letzten Jahrzehnten Grossartiges geleistet, um die eigene Situation zu verbessern.

swissinfo: Was bedeutet Ihnen Politik?

C.S.-C.: Ich habe Politik stets als Möglichkeit gesehen, der Gemeinschaft zu dienen. Die Politik ist ein Mittel, um für das Wohl aller zu arbeiten und über die Verteilung materieller und immaterieller Ressourcen zu entscheiden. Dabei müssen meines Erachtens die schwachen Glieder einer Gesellschaft immer besonders berücksichtigt werden.

Der Politik kommt die institutionelle Aufgabe zu, nach ausgeglichenen Lösungen zu suchen und die Interessen der unterschiedlichen Lager zu berücksichtigen.

Ich habe – im Einklang mit den Prinzipien meiner Partei und der Doktrin der Kirche – immer versucht, eine kohärente Politik zu verfolgen, in der ethische und moralische Werte eine wichtige Rolle spielen. Diese betreffen Gerechtigkeit, Freiheit, Respekt vor dem Leben, Persönlichkeitsrechte und das soziale Zusammenleben.

swissinfo: Ihnen liegt Chancengleichheit sehr am Herzen. Was verstehen Sie genau unter diesem Begriff?

C.S.-C.: Ich habe mich immer dafür eingesetzt, dass Personen unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Geschlecht oder ihrer Hautfarbe alle Möglichkeiten ausschöpfen und ihre Träume verwirklichen können, sei es im Privaten, im Berufsleben oder im Sozialen.

Der Entwicklungsstand einer Gesellschaft misst sich für mich nicht nur an ökonomischen Parametern, sondern auch in diesen Bereichen. Es ist Aufgabe des Staates, allen Mitgliedern der Gesellschaft den Zugang zu Aus- und Weiterbildung, zu Arbeit und zu einem sozialen Leben zu ermöglichen. Aber natürlich müssen auch die Familien und Verbände sowie jede einzelne Person ihren Beitrag leisten.

swissinfo: Wie sehen Sie die Schweiz von heute?

C.S.-C.: Wir leben in einer Welt voller Veränderungen. Und die Geschwindigkeit nimmt ständig zu. Das hat Auswirkungen auf unsere Art zu leben und zu arbeiten sowie auf unsere Wahrnehmung der Welt. Es kommen Gefühle von Unsicherheit und Angst auf. Darauf muss die Politik reagieren und Antworten entwickeln.

Diese Umwälzungen haben nicht nur zu Verunsicherung geführt, sondern auch zu neuer Armut und sozialer Benachteiligung. Ich denke etwa an Ausländer oder die Working-Poor.

swissinfo: Wie kann die Politik darauf reagieren?

C.S.-C.: Eine globale und koordinierte Politik ist nötig, um die Grundausbildung zu garantieren, Forschung zu stärken, neue Arbeitsplätze zu schaffen, den Frauenanteil im Arbeitsmarkt zu erhöhen und die Vereinbarkeit zu Familie und Arbeit zu gewährleisten. Es sind alles Teile eines grossen Puzzle.

Es braucht flankierend eine Reihe konkreter Massnahmen, wie beispielsweise das System der Kinderzulagen im Tessin. Es gilt als Modell für die ganze Schweiz, um einer Verarmung der Familien Vorschub zu leisten.

Zudem ist eine aktive Integrationspolitik nötig, um das Zusammenleben der Gemeinschaften in unserem Land zu fördern. Dies ist übrigens kein unilateraler Prozess, der nur die Ausländer betrifft. Auch die Schweizer müssen ihren Beitrag leisten.

swissinfo: Wollen Sie in Ihrem Präsidialjahr die Idee der Schweiz als “Willensnation” neu beleben?

C.S.-C.: Die Bundesverfassung von 1848 hat unserem Land ein Normenpaket gegeben, das ein Wunder möglich machte. Die Schweiz verfügt über ein politisches und institutionelles System, das eigentlich alle Schwierigkeiten lösen kann.

Föderalismus, Volksrechte, Minderheitenschutz, Konkordanz, Mehrsprachigkeit, nationale Kohäsion: All dies sind Werte, die miteinander verwoben sind, aber auch in einem delikaten Gleichgewicht stehen. Diese Werte müssen wir pflegen.

In diesem Präsidentschaftsjahr möchte ich gerne Botschafterin dieser Werte sein. Die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Stabilität machen den Reichtum unseres Landes aus. Wir müssen dieses Gleichgewicht erhalten. Ich möchte auch die Bedeutung des konstruktiven Dialogs unterstreichen. Die Konzertation ist der Motor unseres politischen Systems.

swissinfo: Wie wollen Sie als Vertreterin einer Sprachminderheit Ihre Aufgabe als erste Bürgerin im Lande wahrnehmen?

C.S.-C.: Ich bin halb Bernerin und halb Tessinerin, aber die erste Frau italienischer Sprache als Präsidentin der Volkskammer. In dieser Funktion möchte ich die nationale Kohäsion und die Chancengleichheit fördern.

Ich werde Gemeinden und Kantone besuchen, die mich einladen. Dabei werde ich stets betonen, dass mehrere Kulturen und Sprachen für unser Land nicht Folklore sind, sondern Fundamente des nationalen Zusammenhalts. Sie sind Teil unserer Identität.

swissinfo-Interview: Françoise Gehring
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

Chiara Simoneschi-Cortesi, 1946 in Zürich geboren, ist in Lugano aufgewachsen. Sie ist Mutter dreier erwachsener Söhne. Ihr Wohnort ist Comano bei Lugano. Sie gehört der Christlichdemokratischen Partei (CVP) an.

Politik war immer ihre Leidenschaft, angefangen von den Studien in Politikwissenschaft in Bern bis zur aktiven Politik: 16 Jahre im Gemeinderat von Comano, 12 Jahre im Grossen Rat des Kantons Tessin, den sie 1998/99 präsidierte.

Im gleichen Jahr wurde sie in den Nationalrat gewählt. Seit Dezember 2006 ist sie Vizepräsidentin. Sie ist Mitglied der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur sowie der Kommission für Verkehrs- und Fernmeldewesen.

Chiara Simoneschi-Cortesi hat 10 Jahre die Eidgenössische Kommission für Frauenfragen (EKF) präsidiert. Momentan steht sie an der Spitze der Schweizerischen Vereinigung für Erwachsenenbildung (SVEB).

Sie sitzt zudem im Stiftungsrat des katholischen Hilfswerks Fastenopfer, in der bioethischen Kommission der Schweizerischen Bischofskonferenz und in der Zulassungskommission für den diplomatischen Dienst.

Der Nationalratspräsident der Schweiz ist Vorsitzender der Grossen Kammer sowie der Vereinigten Bundesversammlung. Er leitet die Sitzungen und hat vor allem administrative Aufgaben. Der Ständerat wählt ebenfalls einen Präsidenten bzw. eine Präsidentin.

Die Präsidenten legen die Traktanden für die Sessionen fest. Ausserdem führen sie das Ratsbüro und repräsentieren die Räte nach aussen.

Volks- und Kantonskammer wählen je auch einen ersten und zweiten Vizepräsidenten. Eine Wiederwahl im kommenden Jahr ist nicht möglich.

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