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Die Dalai-Mania hat zwei Seiten

Tausende hören dem Dalai Lama am 5. August 2009 in Lausanne zu. Keystone

Die Auftritte des religiösen und politischen Führers der Tibeter führen bei chinesischen Politikern zu allergischen Reaktionen, im Westen aber zu einer grossen Faszination. Das mediale Ausschlachten des Dalai Lama als "Star" ist aber nicht nach jedermanns Gusto.

“Viele in der Schweiz geborene Tibeter kennen ihr Land überhaupt nicht, sie sind blind, was das betrifft. Und der Dalai Lama? Er interessiert mich zwar nicht, aber intelligent ist er”, sagt eine Schweizer Chinesin.

“Besonders gut wirkt er als Schauspieler”, fährt ihre Freundin, ebenfalls Chinesin, fort. “Meine Freunde ärgern sich und haben sogar darüber nachgedacht, in Lausanne demonstrieren zu gehen. Wir verstehen nicht, weshalb eine derart undemokratische Person so sehr idealisiert werden kann.”

Zwar geben die beiden Frauen zu, dass “es sich um Politpropaganda handelt”: In der Schule hätten sie gelernt, “dass das tibetische Volk immer arm gewesen sei, und dem buddhistischen Bonzenstand zu Füssen gelegen habe”.

Sie finden, dass “dieses System, das Politik und Religion vermischt, veraltet ist”. Ausserdem wolle der Dalai Lama nur sein Königreich wiederhaben.

“China hat viel in Tibet investiert”, meint die eine. “Die Chinesen haben anderes im Sinn als die Tibetfrage”, meint die andere. “Nämlich sich selbst weiterzubringen.”

Nationalismus und Unverständnis

“Das sind ganz typische Aussagen, denn die Chinesen denken sehr nationalistisch und sind nicht im Stande, diese westliche Schwärmerei nachzuvollziehen”, sagt ein Genfer Sinologe. Auch er will aber, wie die beiden Chinesinnen, anonym bleiben.

Die sino-tibetische Frage sei gleich weit gefächert wie jene von Elsass-Lothringen im 20. Jahrhundert, so der Sinologe weiter. Es stelle sich dabei die Frage des Nationalstaats. “Ausserdem lässt mich die Faszination des Westens für den Buddhismus – tibetischer Prägung mehr als andersweitiger – ganz speziell träumen. Ich kann mir das nur durch das Vakuum unserer eigenen Umgebung erklären.”

Die Erwartungen, die sich aus der spirituellen Krise des Westens ergeben, würden zusätzlich noch durch das perfekte Image des Dalai Lamas genährt, sagt Jean-Marc Falcombello.

“Sein Image, nicht er selbst, erfüllt den Zweck, denn es entspricht den Erwartungen so gut, dass er zu einer Art von Filmschauspieler wird in einem Dekor, ohne dass er das Skript zur Filmstory geschrieben hätte.”

Auch Falcombello, Journalist und Kenner des buddhistischen Asien, hält sich zurück, wenn es darum geht, einzuschätzen, ob der Dalai Lama nun ein williges Opfer oder ein Organisator eines medialen Krieges ist.

Über die Wirklichkeit hinaus führt dieses Image zu einer Konfusion: “Es ist nicht gesagt, dass die Stärke des Images des Dalai Lamas für die tibetanische Sache von Vorteil ist”, so Falcombello. “Wäre das der Fall, hätte sich die Situation im Tibet in Richtung einer Lösung bewegt. Aber das ist ja offensichtlich nicht so.”

Während 50 Jahren hat kein westliches Land die tibetische Exilregierung anerkannt, die vom Dalai Lama angeführt wird. Während seiner 21 Besuche in der Schweiz wurde der Träger des Friedensnobelpreises nie offiziell vom Bund empfangen.

Für seinen 22. Besuch muss sich der Dalai Lama mit der Präsenz der Präsidentin des Nationalrats begnügen. Ein Umstand, der bei den zahlreichen Verteidigern des Tibet kontrovers aufgenommen wurde.

Vermischung der Fragen

Claude Levenson, Journalistin und Autorin von verschiedenen Büchern zu diesen Fragen, bezeichnet die Organisation der zweitägigen Unterweisung als “etwas zu professionell”. Die Veranstaltung erinnere mehr an das Konzert eines Popstars als an die Vermittlung religiöser Weisheiten eines spirituellen Meisters.

“Die Unruhen im Westen Chinas haben gezeigt, dass die Uiguren Peking weniger Sorgen bereiten als die Tibeter. Die Tibeter profitieren deshalb von mehr Gehör in der westlichen Öffentlichkeit. Gewisse politische Kreise hier wägen das politische Schicksal Tibets und die Realität der Verhältnisses der politischen und wirtschaftlichen Kräfte gegeneinander ab.”

Levenson erklärt:”Es gibt Junge, die sehr frustriert sind und den pazifistischen Weg des Dalai Lama zwar in Frage stellen, ihn aber als Person nicht kritisieren. Das ist ein totaler Widerspruch.”

Niemand kann verleugnen, dass die Medialisierung des spirituellen Meisters das Leiden der Tibeter vor dem Vergessen bewahrt. Gemäss Jean-Marc Falcombello vereinfache die Vermischung der politischen und religiösen Fragen paradoxerweise die Position Pekings. Dieser empfindet es im Übrigen als “Ironie”, dass die kommunistische Partei Chinas sich in die religiösen Angelegenheiten Tibets eingemischt hat.

“Die Menschen zählen”

“Die chinesische Bevölkerung weiss ganz genau, dass die Tibeter keine Chinesen sind. Doch die Chinesen sind ebenso wie die Westler fasziniert von dieser ‘reinen Erde’, die sie als Touristen hoch schätzen”, betont Falcombello.

Für den Dissidenten S.H., der in Hongkong lebt, dreht sich die Frage nicht um die Unabhängigkeit von Tibet. “Was zählt, sind die Menschen. Die Han-Chinesen (die grosse Mehrheit in China) und die Tibeter sind Nachbarn, sie müssen eine Lösung finden, wenn sie nicht zu viel Blut vergiessen wollen.”

Für den Gewerkschafter ist wichtig, dass die Gesetze in China und Tibet Fortschritte machen. “In diesem Bereich respektiere ich den Dalai Lama, weil er den Menschen ins Zentrum seiner spirituellen Vision stellt.”

Am Dringendsten sei, dass die Tibeter ihre Kultur und ihre Religion bewahren, ohne auf eine politische Unabhängigkeit zu warten. “Wenn jemand blutet, muss die Blutung sofort gestoppt werden, auch wenn man nur geringe Mittel zur Verfügung hat”, schliesst der Dissident.

Gemäss gewissen Sinologen beginnen offizielle Historiker in letzter Zeit anzuerkennen, dass die Idee der Grossnation China nicht vor 1911 existierte – und vor allem erst seit der Ankunft der Kommunisten. “Das ist ein grosser Schritt nach vorn, und vielleicht nur der Erste”, wünscht sich Jean-Marc Falcombello.

Isabelle Eichenberger, swissinfo.ch
(Übertragen aus dem Französischen)

Der Dalai Lama ist am 4. und 5. August in Lausanne und hält buddhistische Unterweisungen ab.

Er traf dabei auch den Präsidenten der Waadtländer Regierung, Pascal Broulis, der auch als Kandidat für die Nachfolge von Bundesrat Pascal Couchepin gehandelt wird.

Am 6. August wird er die Präsidentin des Nationalrats, Chiara Simoneschi-Cortesi, treffen. Die Landesregierung verzichtet darauf, den Dalai Lama zu empfangen.

Schliesslich wird sich der Dalai Lama an einer Konferenz in Genf vor über 100 chinesischen und tibetischen Intellektuellen äussern.

1935 wird er in eine Bauernfamilie im Himalaya geboren.

1937 wird er als 14. Dalai Lama, die Wiedergeburt des Avalokitesvara (Buddhistischer Gott des Mitgefühls) anerkannt. Er ist spiritueller Führer des tibetischen Buddhismus und irdischer Chef Tibets.

1959 flieht er nach Dharamsala (Indien) vor der chinesischen Repression nach der Invasion von 1950 und gründet die tibetische Exilregierung unter seiner Leitung.

1989 erhält er den Friedens-Nobelpreis.

Der erste buddhistische Mönch (ein Deutscher) kam 1910 nach Lausanne.

Mit rund 4000 Personen beherbergt die Schweiz heute die grösste tibetische Gemeinschaft in Europa und die drittgrösste der Welt.

Im Jahr 2000 waren in der Schweiz 0,3% der Bevölkerung Buddhisten (52% davon Schweizer, 63% davon Frauen).

Die Schweizerische Buddhistische Union besteht aus rund 100 Vereinen.

Die Schweiz unterstützt den Dialog zwischen der chinesischen Regierung und den religiösen Oberhäuptern in Tibet sowie dem Dalai Lama.

Die Schweiz anerkennt Tibet als autonome Region Chinas, die 1951 in eine chinesische Provinz überführt wurde. Sie anerkennt aber die tibetische Exilregierung im indischen Dharamsala nicht und unterhält auch keine offiziellen Beziehungen mit ihr.

1991 war die Schweiz das erste westliche Land, das den Menschenrechts-Dialog mit China institutionalisiert hat. Die 10. Runde dieser Gespräche fand im Juli 2008 in Peking statt. Die 11. Wird noch diesen Sommer über die Bühne gehen.

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